Gestern haben wir meinen Vater beerdigt. Einundneunzig ist er geworden. Mir scheint, es sei ein gutes Leben gewesen. Das hat er zuletzt oft selbst gesagt. Natürlich weiss ich nicht, was er verschwiegen hat, ob es unverheilte Blessuren und nagende Enttäuschungen gab. Geschwiegen hat er ja viel.
Wer mit sich und anderen so streng ist, wie er es war, hat es jedenfalls nicht leicht mit dem Glücklichsein. Als Kind und Jugendlicher habe ich mich zeitweise schwer getan mit seiner schweigsamen Vorbildlichkeit. Immerhin wurde sie gemildert von einer geradezu zärtlichen Fürsorge, die sich immer dann zeigte, wenn äussere Umstände ihm dazu die Erlaubnis gaben. Sonst aber galt, dass Männer nicht viel reden und ihr Inneres nicht zeigen. Das war halt so.
Auch wenn der Geist seiner Zeit ihn formte, schwamm er nicht gedankenlos im Mainstream. Gegen die Status- und Konsumorientierung, die für sein Milieu in den Fünfziger- und Sechzigerjahren typisch war, blieb er in vielem resistent. So wollte er beispielsweise nie ein eigenes Auto – nicht als Verzicht, sondern als Ausdruck seiner Eigenständigkeit.
Den schweigsamen, in sich gekehrten Charakter hat er behalten. Und doch änderte er sich ein wenig. War’s eine Lockerung? Gewann er Abstand von einem unbarmherzigen Selbstbild? Mir jedenfalls ist er mit zunehmendem Alter näher gerückt.
In den letzten zwei Jahren wechselten wir die Rollen. Schwindende Kräfte zwangen ihn, Hilfe zu suchen. Es war ihm nicht peinlich, sie anzunehmen und seine Dankbarkeit zu zeigen. Lange noch ging es ihm leidlich, bloss die letzten zehn Tage waren qualvoll. Am Ende versagte ihm die Sprache. Manchmal schrie er vor Schmerzen. In den letzten Stunden streichelte und küsste er unablässig seine Frau.
Nun haben wir ihn beerdigt. Die Versammelten bis hin zur Urenkelin warfen eine Schaufel Erde auf die versenkte Urne. Die Abdankungspredigt des Pfarrers schloss mit den Worten: Es ist gut.
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