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Agnes Martin und Robert Ryman

Im Kunstmuseum Winterthur hängen sie ein paar Schritte voneinander entfernt: Agnes Martins „Untitled No. 8“ von 1988 und Robert Rymans „Capitol (II)“ von 1975-77. Beide Bilder sind quadratisch, gross (knapp zwei Meter Seitenlänge), weiss. Rymans Bild hängt rahmenlos an der weissen Wand, an der es mit vier vorstehenden eisernen Aufhängern festgeschraubt ist. Bei Agnes Martin ist das Gemälde in einen schlichten Metallrahmen gefasst, der es drei Fingerbreit von der Wand abhebt.

 

Von der 2004 verstorbenen Agnes Martin – dieses Jahr war ihr hundertster Geburtstag – und vom 1930 geborenen Robert Ryman gibt es fast ausschliesslich quadratische Bilder. Und beide haben sich in ihrem gesamten Schaffen mit der Farbe Weiss auseinandergesetzt. Diese Konzentration unter strengen formalen Vorgaben steht für radikales Künstlertum, das experimentierend die Grenzen des Darstellbaren auslotet. In dieser Haltung sind Martin und Ryman Geistesverwandte. Doch ihre in Winterthur gezeigten Bilder sind trotz allen Gemeinsamkeiten auch sehr verschieden.

 

„Untitled No. 8“ mit seiner horizontalen Struktur reflektiert die Leere der Wüste oder eines unbeschriebenen Blattes. Eine akribisch balancierte, sparsame Lineatur aus abwechselnd grau gemalten und mit Bleistift gezogenen Linien teilt das Quadrat in gleichmässige weisse Bänder. Es gibt keinen Vorrang in diesem Bild. Das Weiss ist nicht Hintergrund, die Linien sind nicht Ränder, sondern alle Elemente samt dem Rahmen bilden einen Gegenstand von nachdrücklicher Präsenz und stiller Ausstrahlung. Grössenverhältnisse der Teile und des Ganzen, Lebendigkeit der Linien, Nuancen und Pinselspuren im Weiss: Alles kommt aus einer Tiefe des Sichsammelns und Nachdenkens. Eine Aura der Kostbarkeit umgibt das Bild, das aus einem Meer von Zeit hervorkam.

 

Stellt man sich dicht vor Rymans „Capitol (II)“, so wird einem schwindlig. Der Blick findet an der weissen Bildfläche nirgends Halt. Dass sie nicht homogen ist, spürt man mehr als dass man es sieht. Die Spuren von Rymans Pinselführung sind an der Schwelle des Wahrnehmbaren. Untergründig lebt die weisse Fläche, man glaubt eine durchscheinende Textur zu bemerken und ist doch nie sicher, ob man sich täuscht. Ryman ist ein Forscher. Der Maler und sein Publikum wissen, was ein Bild ist, und sie nehmen teil an einem Experiment, bei dem Grenzen der Reduktion ausgelotet werden: Was kann an einem Bildobjekt verändert, zum Extrem getrieben, weggelassen werden, ohne ihm seine Qualität als Kunstgegenstand zu entziehen? Mit der auffälligen Befestigung unterstreicht „Capitol (II)“ seine Eigenschaft, ein Objekt im Museum zu sein, zum Anschauen hergebracht und aufgehängt mit dem Zweck, in den Betrachtern Wahrnehmungen und Gedanken auszulösen.

 

Zwei weisse Bilder: das erste ein Kultgegenstand, gesammelt und heiter, Ergebnis unablässigen Strebens nach Vollkommenheit; das zweite eine These, herausfordernd und inspirierend, Ausdruck der Lust am Disput wie auch der Suche nach Erkenntnis und des Mutes zum Wagnis.

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