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Geschichten sind Sinnmaschinen

Erzählte Geschichten schaffen das Geflecht von Bedeutungen, das wir in seiner Gesamtheit als „Welt“ wahrnehmen. Für eine unmittelbare Auffassung dessen, was Welt heisst, sind wir unzureichend ausgestattet. Wir konstituieren und kennen sie aufgrund eines Erzählkosmos, der auf einem Traditionsschatz beruht und mit Informationen und Alltagsgeschichten permament weitergewoben wird. Geschichten bauen Welt und erzeugen Sinn. Geschichten haben Strukturen, die quasi in unsere DNA eingeprägt sind. Dieses narrative Grundmuster liegt vollständig entwickelt vor im klassischen Drama. Ableitungen dieser Ur-Erzählung sind in jeder Story, jedem Stück Unterhaltung und jedem relevanten Alltagsgespräch wiederzufinden.
Die besten Geschichten sind böse Geschichten. Ein Naturgesetz des Erzählens will es so: Mord und Totschlag, Verhängnis und Katastrophe, Lug und Trug sind die wahren Motoren der Narration. Happy Ends dienen lediglich der Beruhigung lustvoll aufgewühlter Emotionen und erzeugen so die Begier, sich von einer nächsten schrecklichen Story in den Bann schlagen zu lassen. Auch Komödien werden von dunklen Energien angetrieben, doch da sie die drohenden Abstürze stets um Haaresbreite vermeiden, verdecken sie ihre Negativität.  Sie tun es allerdings auf gewollt durchsichtige Art. Für Friedrich Dürrenmatt war die Komödie das Genre, das gerade böse genug ist, um menschliches Gebaren und gesellschaftliche Spiele zu demaskieren. „Uns kommt nur die Komödie bei,“ meinte er in genüsslichem Ingrimm.
Ungetrübter Genuss verlangt nicht nur böse Geschichten, sondern auch einen bösen Erzähler. Schlimmes in didaktischer Absicht dargeboten erzeugt beim Publikum entschiedene Abwehr. Wer auf eine Erzählung einsteigt, will nicht didaktisch hereingelegt werden. Schon Happy Ends sind eigentlich ganz und gar out. Nur ironisch, ungefähr wie das Hirschgeweih im designten Interieur, sind sie noch möglich. Zu einer modernen Erzählhaltung gehören anscheinend kalter Blick, unbeteiligte Distanz und insistierendes Beschreiben unerfreulicher Einzelheiten.
Eine Umdrehung weiter in der Spirale des Brechens naiver Erzählerwartungen kommt es schliesslich zur Verweigerung der Geschichten. Ästhetische Modernisierungen sind generell durch fortschreitende Abstraktion charakterisiert. Auch moderne Poetik bewegt sich in dieser Richtung: Nach den moralischen lassen Erzählungen zunehmend auch die dramaturgischen Strukturen hinter sich. Sie lösen Konturen von Akteuren auf, wechseln und mischen die Erzählperspektiven, und schliesslich lösen sie Zusammenhänge und Logiken auf. Im Extrem wird das Erzählen gänzlich unterlaufen und durch nicht zu entschlüsselnde Bilder und Stimmungen ersetzt.
Ein Beispiel dafür ist der soeben am Filmfestival Locarno gesehene portugiesische Film „A Ultima Vez Que Vi Macau“ (Das letzte Mal, dass ich Macau gesehen habe). Abgesehen von einer vagen Exposotion bleibt alles total unklar. Die Logik ist gewollt unmöglich, indem der Off-Erzähler, selber die Hauptperson, seinen eigenen Tod berichtet und eigentlich einen Weltuntergang andeutet.
Ob damit die Wirklichkeit Macaus, die Befindlichkeit einer bestimmten Person oder gar die prekäre menschliche Existenz an sich in Bilder gefasst ist? Der Film gibt zu seiner Deutung keine festen Grundlagen. Vermutlich aber will  er solche oder ähnliche Fragen provozieren. Er kann ja mit einem Publikum rechnen, das es gewohnt ist, in Geschichten (zumeist verborgenen) Sinn zu finden. Und so funktioniert die Sinnmaschine selbst noch in der manifesten Sinnverweigerung.
Bild aus dem erwähnten Film

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