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Angriff der Gegenwart

Einige hundert meiner alten E-Mails wurden ohne mein Zutun annihiliert. Darunter sind Nachrichten meines Vaters, der mit über achtzig Jahren einen Computer gekauft und sich das Surfen und Mailen beigebracht hatte. Der Provider der alten, noch als Zweitaccount genutzten Adresse liess diesen Erinnerungsschatz mal eben verschwinden. Ohne vorherige Warnung, ohne nachträglichen Hinweis.

 

Vor kurzem habe ich angefangen, meinen Fundus an Dias und Kleinbildnegativen zu digitalisieren. Was für Erinnerungen! Private Bilder sind Träger von verdichtetem Lebenssubstrat. Bei der Arbeit am Scanner wird Vergangenes lebendig. Dank iPhone und besser noch iPad bekommen die Fotos wieder einen Platz in meinen Alltag, sind wieder da, nur drei Fingertipps und zwei Wischbewegungen entfernt. Und bei der übernächsten Gerätegeneration? Mit dem ständigen Wechsel der Software? Kann ich meine elektronischen Bilder auch in fünf oder zehn Jahren noch betrachten?

 

Das beherrschende Tempus der digitalen Welt ist die Gegenwart: Echtzeit. Wir verfolgen die Ereignisse im Moment ihres Geschehens und tauschen uns gleichzeitig in sozialen Netzen darüber aus. Ein zwei Stunden alter Tweet ist schon aus dem Scheinwerferkegel der Aufmerksamkeit raus und taucht in die Schattenwelt des Gewesenen ein.

 

Auch mich packt immer wieder das Berauschende dieses vorne Dranseins am Lauf der Dinge. Wie bei jedem Rausch aber folgt oft dröhnende Leere. Dauernd kann man ja nicht angeleint (so hat ein schlauer Kopf das Online-Sein interpretiert) bleiben, was aber paradox ist, weil das Prinzip der Echtzeit-Teilnahme am Netzgeschehen eigentlich eine 24-7-Präsenz erfordern würde. Beim Ausklinken hat man irgendwie das Gefühl, illegitimerweise eine Kommunikation abzubrechen.

 

„Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ heisst ein Film von Alexander Kluge, ein poetisch verschlüsseltes Kinostück voller versteckter Verweise auf manches, was seither (1985) Wirklichkeit geworden ist. Das Genialste an dem Film aber ist sein Titel. Er kommt mir immer wieder in den Sinn und regt zum Nachdenken über den Wandel der Zeit an.

 

Wandel der Zeit: Nicht einfach nur die Dinge und Umstände ändern sich im Lauf der Zeit, sondern die Zeit selbst wandelt sich. Wir leben augenscheinlich unter einer Hegemonie der Gegenwart.

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