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Gegenwart

Anton Graff gilt als einer der bedeutendsten Porträtmaler am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Anlässlich seines 200. Todestages wird eine repräsentative Schau seiner Werke gezeigt, gegenwärtig im Museum Oskar Reinhart in Winterthur, später dann in Berlin.

 

Graffs Kunst meint man ungefähr zu kennen: konventionelle Auftragswerke für die Aristokratie und das aufstrebende Bürgertum, welche die Selbstdarstellungswünsche der Porträtierten bedienen, darüber hinaus eine Reihe von Geistesgrössen und Herrschern (Lessing, Moses Mendelssohn, Schiller, der Preussenkönig Friedrich II.), deren Bildnisse zu Ikonen geworden sind und zum visuellen Bildungskanon gehören.

 

Zur Werkschau versammelt, bekommen diese Porträts eine Aura, die mich überraschend in ihren Bann zieht. Selbst wenn ich mich den Bildern als historischen Artefakten nähere, stehe ich zuerst einmal vor Menschen, lebendigen Personen.

Zwar sind sie alle inszeniert, ihre Darstellung folgt ganz bestimmten Codes, und der routinierte Maler hat seine Kniffe, mit denen er sie „lebendig“ macht: Lichtregie, unterschiedliche maltechnische Behandlung von Gesicht, Kleidung und Hintergrund, die kleinen Spitzlichter in der Iris der Augen – die handwerkliche Raffinesse wird da souverän und ökonomisch eingesetzt. Die Ökonomie der Ausdrucksmittel sorgt nicht nur dafür, dass sich deren Wirkung nicht verschleisst, sondern auch für die Effizienz der Graffschen Werkstatt.

 

Dass die gemalten Menschen derart präsent sind, liegt nicht nur am überlegenen Handwerk dieses Malers, sondern an seiner Art, ihnen zu begegnen. Schon Graffs Zeitgenossen bewunderten seine Fähigkeit, den Menschen in die Seele zu schauen und den Bildern diese Art von Tiefe zu vermitteln.

 

Graff (1736 – 1813) war ein Kind seiner Zeit, der Aufklärung, und er war über ein europaweites Kontaktnetz verbunden mit prägenden Gestalten der Epoche. Er begeisterte sich am Kult des Individuums, des Genies, pflegte intensive Freundschaften. Die aufklärerische Entdeckung der Würde und Freiheit der Person musste einen Porträtisten beflügeln. Graff war deshalb so hervorragend als Porträtkünstler, weil er sich die Ideale der Zeit zu eigen machte und zum malenden Aufklärer heranreifte.

 

Steht man vor seinen Bildern und ist gar in dieser Gedenkschau völlig von ihnen umgeben, so taucht man unwillkürlich ein in den Geist dieser Zeit, für den das Beste der Menschheit gewissermassen in Reichweite lag. Graffs Bilder zeigen deutlich, wie er den Menschen auf Augenhöhe und mit grenzenloser Empathie begegnet. Man kann nicht anders, als sich diesem freundschaftlich-respektvollen Geschehen zu nähern in der Hoffnung, ebenfalls einbezogen zu werden.

 

Graffs Bilder repräsentieren in idealtypischer Weise, was George Steiner die „reale Gegenwart“ des Kunstwerks nennt.

 

Bild: Anton Graff, Friedrich der Grosse, um 1781/86 (Wikimedia)

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