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Programmgläubigkeit

Es braucht sie, die Programme, die „Vor-Schriften“ zur Festschreibung dessen, was man vorhat. Anders ist eine gemeinsame Verhandlung und Lenkung der kollektiven Angelegenheiten – auch „Politik“ genannt – gar nicht denkbar. Das Programmatische gibt ein Bild, manchmal auch bloss eine grobe Skizze der anzustrebenden Verhältnisse und ermöglicht dadurch die Verständigung über den einzuschlagenden politischen Kurs. Im politischen Alltag sind politische Leitbilder häufig Negativfolien: Sie prangern Missstände und Probleme an, deren Überwindung sie zum Programm erheben.

 

Negativziele werden politisch in bildhafte Schlagworte gefasst. Masseneinwanderung und Sozialmissbrauch heissen sie hier, Abzockerei und Lohndumping dort. Auch positiv-programmatische Aussagen bemühen sich häufig um Anschaulichkeit, erlangen jedoch selten eine ähnlich emotionalisierende Durchschlagkraft wie das Vokabular der politischen Skandalisierung.

 

Politisches Handeln beruht auf dem Axiom, Programmatisches könne ohne allzu grossen Substanzverlust in Praxis übersetzt werden und erziele so die intendierte Wirkung, kurz: Programme seien realisierbar. Zwar dürfte allen politischen Akteuren klar sein, dass eine derartig konsistente Umsetzung von Zielvorstellungen fast in jedem Fall ein äusserst komplexes und schwierig zu steuerndes Unterfangen ist. Und doch gehen sie immer wieder von der Annahme aus, Programme seien feste Werte auf dem Markt der politischen Angebote, und man könne mit einem Votum für sie gewissermassen die versprochene Wirkung bestellen.

 

Hier nur einige der Gründe für die systematische Schwierigkeit, Programme zum Ziel zu führen: Jedes einzelne Handlungsfeld hängt mit zahlreichen anderen Bereichen zusammen, wobei Art und Wirkung dieser Interdependenzen nie völlig überblick-, durchschau- und vorhersehbar sind. Ausserdem ändern sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen dauernd. Bei manchen Themenfeldern wirken wissenschaftlich-technische Entwicklungen auf die Beurteilungen und Handlungsmöglichkeiten ein (die Klimapolitik ist dafür ein instruktives Beispiel). Und schliesslich gibt es gesellschaftliche Meinungsumschwünge, neue Sensibilitäten, veränderte Kommunikationsweisen und die diffuse, stets fliessende generelle Befindlichkeit, die man Zeigeist nennt.

 

Das alles ist bekannt. Und so weiss „man“ denn auch, dass beispielsweise eine von der Politik beschlossene Bildungsoffensive keineswegs mit Sicherheit gebildetere Menschen hervorbringt. Dass ein halbes Jahrhundert der Entwicklungspolitik mit Hilfsgeldern in Billionenhöhe die programmatischen Ziele immer wieder bei weitem verfehlt hat, ist ein tragisches Faktum. Die „Energiewende“, bei der Deutschland nach Fukushima stürmisch vorausgeeilt ist, scheint nach einer dieser Tage herausgekommenen Untersuchung eines ihrer wichtigsten Ziele – die Innovationsförderung – nicht nur nicht zu erreichen, sondern regelrecht zu sabotieren.

 

Politische Programme müssen sich verkaufen. Simple Konzepte sind leichter zu propagieren als differenzierte. Deshalb bekommen wir als Rezept gegen krisenhafte Begleiterscheinungen des Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums die Ecopop-Initiative, gegen die Auswirkungen der Globalisierung auf den Arbeitsmarkt die Mindestlohninitiative. In beiden Fällen versucht man komplizierte Probleme quasi mit einem Universalinstrument auszuhebeln.

 

Ob die angestrebten Wirkungen mit den jeweils propagierten Mitteln zu erreichen sind, ist schwer vorauszusagen. Leider funktioniert politische Auseinandersetzung so, dass Befürworter und Gegner fast gezwungen sind, jeden Zweifel aus ihren Köpfen zu verbannen. Man ist entweder felsenfest überzeugt, dass ein Programm funktionieren wird – oder aber, dass es ein totaler Fehlschlag wäre.

 

Wer Politik treibt, scheint zur Programmgläubigkeit verurteilt zu sein. Es fehlt die Alternative einer Politik des Zweifels. Auch sie käme nicht aus ohne generelle Ziele und Verfahrensleitlinien. Ihre Programmatik wäre durch eine gewisse Vorsicht geprägt, d.h. diese Politik würde eher mit differenzierten Massnahmenbündeln als mit grossen Keulen operieren. Zudem würde sie grossen Wert legen auf genaue Evaluation von Politik und eine Feedback-Kultur entwickeln, in der die Effekte politischen Handelns laufend wieder in die Politik eingespeist werden.

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