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Erzählen in nachnaiver Zeit

„… aber was ist ein Roman oder eine Erzählung am Ende anderes, wenigstens, wenn sie sich auf das eigene Leben stützt, als die geglückte Verwandlung von Tiefpunkten in Höhepunkte? Dem Schreibenden gewährt diese Metamorphose eine Art Revanche über das, sagen wir, Schicksal. So lange er dessen Schläge in Sätze verwandeln kann, hat er die Partie noch nicht verloren.“ (Anne Weber, in: Luft und Liebe, Roman, S. 102f)

 

„Kann es sein, dass das Leben keinen anderen Sinn hat, als erzählt zu werden und im Erzählt-Werden immer wieder neu zu entstehen? Dass also das Erzählt-Werden einer der vielen Wege der Fortpflanzung ist, die das Leben kennt?“ (a.a.O., S. 184)

 

Um Fortpflanzung geht es in der Tat in Anne Webers Roman. Ohne Erotik zwar, dafür in drastischer Weise mit viel Medizinaltechnik. Es ist eine Liebesgeschichte, die sich nicht nur in Luft auflöst, sondern in die (vorhersehbare) Katastrophe schlittert. Hinter den zitierten Sentenzen verbirgt sich das Entsetzen der Erzählerin über ihre unverzeihliche Naivität. Sie erzählt vom Scheitern und misstraut dem Erzählen genauso wie dem Leben.

 

Erzählen ist als Vorgang etwas elementar Naives. Im Erzählen entsteht eine Wirklichkeit, die zunächst einmal nicht hinterfragt wird. Allerdings erweist sich das Konstrukt des Erzählten dann als befragbar oder auch fragwürdig, sobald ein Element der Spiegelung hinzutritt, sei es durch eine fragende, eine opponierende oder eine reflektierende Figur, sei es durch den Wechsel der Erzählebene.

 

Literarische Prozesse benötigen als Grundmaterial die im Erzählen erzeugte Realität. Doch indem das Erzählen sich literarisch versteht, hebt es seine Naivität auf. Der Erzählvorgang zeigt sich – zumindest dem, der das sehen will – als Konstruktion einer künstlichen Wirklichkeit.

 

Dies ist Anne Webers Welt: Sie lebt in der Hauptstadt des Poststrukturalismus, deren Luft schwirrt von Derridas Theorien. Sie ist zudem Übersetzerin und zweisprachige Schriftstellerin. Und selbstverständlich tritt sie als Intellektuelle allen vorgeblichen Realitäten skeptisch gegebüber – auch ihren eigenen. Aus letzterem entspringt ihre Ironie: die Technik des überlegenen Umgangs mit dem, was man nicht in der Hand hat.

 

Aus dieser biographischen, sozialen und philosophischen Konstellation entspringt Anne Webers Roman. Die Geschichte ist kitschig und entlarvt sich selbst als Kitsch; sie ist peinlich und lotet die Peinlichkeit erbarmungslos aus; sie ist naiv und hält sich die Naivität voller Zorn als blamable Schwäche vor.

 

Anne Weber ist das Kunststück gelungen, in unserer nachnaiven Zeit mit ihrem Imperativ der Dekonstruktion allen Erzählens die literarische Gattung der „unerhörten Begebenheit“ zu rekonstruieren.

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