„Wer die Menschen direkt befragt, spielt Verführern in die Hände. Schicksalsfragen gehören ins Parlament.“ So der Lead zu Josef Joffes Frontartikel „Diktatur des Volkes“ über den Brexit in „Die Zeit“ vom 7. Juli 2016. Der Herausgeber des deutschen Wochenblatts steht mit seiner Ablehnung sachpolitischer Volksentscheide keineswegs allein. Zahlreiche Kommentatoren und Publizisten haben schwere Bedenken gegenüber diesem politischen Instrument geäussert.
Applaus für das britische Plebiszit gab es europaweit hingegen von EU-Gegnern. Durchaus möglich, dass bei einem „In“-Entscheid in UK die EU-Befürworter und -Gegner die jeweils gegenteiligen Meinungen zur Sinnhaftigkeit und Legitimität der Abstimmung geäussert hätten.
Wahrscheinlich war in der Beurteilung des politischen Instruments Plebiszit manches grundsätzliche Pro oder Kontra eher ein etwas kaschiertes Urteil über den inhaltlichen Entscheid. Dennoch muss man sich die Frage sicherlich stellen: Ist es sinnvoll, komplexe Sachfragen durch Volksabstimmungen zu entscheiden? Sind Parlamente dazu nicht grundsätzlich besser geeignet?
Man kann diese Frage demokratietheoretisch und verfassungspolitisch klären. In Deutschland und in der Schweiz hat man sich entschieden. Historische Erfahrungen und politische Kultur sprachen in Deutschland gegen, in der Schweiz für Plebiszite zu Sachthemen. Schwieriger ist es in Grossbritannien, das keine geschriebene Verfassung, sondern nur normative Traditionen kennt.
Ob Plebiszite zu verantworten seien, muss unabhängig von ihrer formellen Legitimität aber auch auf der Ebene der politischen Wirkungen diskutiert werden. Dem Brexit haben 51,9 Prozent der Urnengänger zugestimmt bei einer Stimmbeteiligung von 72,2 Prozent. 37,5 Prozent der Stimmberechtigten haben somit den Ausschlag gegeben. Das hat für zahlreiche Beobachter genügt, um von einem „klaren Entscheid“ zu reden.
Zum Vergleich: Die Masseneinwanderungsinitiative wurde im Februar 2014 in der Schweiz von 50,3 Prozent der Stimmenden angenommen bei einer Beteiligung von 56 Prozent. Hier waren es 28 Prozent, welche die SVP-Initiative guthiessen – „das Volk“, wie die Volkspartei das jeweils nennt.
Die Hürden zur Veränderung der Verfassung sind in der Schweiz extrem niedrig: Die Mindestzahl der Unterschriften für die Einreichung eines Initiativbegehrens ist mit 100’000 sehr tief angesetzt, und bei der Abstimmung bildet lediglich das Ständemehr eine gewisse Erschwernis; es gibt aber weder ein Quorum (wie zum Beispiel in Italien) oder ein qualifiziertes Mehr (wie es in den meisten Ländern für Verfassungsänderungen verlangt wird).
Zeit-Herausgeber Joffe kritisiert Plebiszite aber nicht wegen unzureichender Abstützung in der Gesamtbevölkerung oder wegen zu geringen formalen Anforderungen. Sein Verdikt zielt auf die Qualität der Auseinandersetzung und Meinungsbildung. Nach Joffes Auffassung ist diese bei Parlamentsentscheiden grundsätzlich höher, weil hier direkte Debatten stattfinden und populistische Propaganda weniger einwirken kann. Das ist im Prinzip sicher richtig, wenn auch der Parlamentsbetrieb in dieser Sicht doch etwas idealisiert wird. Zudem haben statt der Populisten und der manipulativen Medien in den Vorzimmern der Parlamente dann eben die Lobbyisten ihr Wirkungsfeld.
Eine der schlimmsten politischen Entscheidungen der jüngeren Geschichte wurde von einem Parlament gefällt. Am 24. März 1933 stimmte der Deutsche Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zu, mit dem er Adolf Hitler freie Bahn gab für die Errichtung der NS-Diktatur. Wahrscheinlich wäre es nicht anders herausgekommen, wenn das deutsche Volk hätte entscheiden müssen. Doch die grössere Besonnenheit und Verantwortung, die Joffe von Parlamenten erwartet, ist offenkundig historisch nicht beglaubigt.
Was folgt aus alledem?
Erstens, dass es in der Politik keine institutionellen und prozeduralen Garantien gibt für gute Entscheidungen. Und zweitens, dass man trotzdem die formalen Anforderung an weitreichende Sachentscheide besser nicht auf den tiefsten Level setzt.
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