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Schicksalstriller und Koboldoktave

Schuberts Klaviersonate B-Dur D960

 

Schuberts Musik als Ahnung seines frühen Todes zu lesen, legt falsche Fährten. Besser achtet man auf die Kühnheit und den Witz seiner Kompositionen. 

 

Die B-Dur-Sonate, schon von ihrem Umfang her ein Riesenwerk, hat den Nimbus eines «letzten Werks». Schubert schloss sie zusammen mit zwei weiteren Klaviersonaten kurz vor seinem Tod 1828 ab. Erschienen ist sie erst zehn Jahre danach. Da war das frühvollendete Genie schon zum Mythos geworden, und um seine diversen letzten oder auch unvollendeten Werke hatte sich ein Kult gebildet, der nicht zuletzt dem Verkaufstalent cleverer Musikverleger und Impresarios geschuldet war.

 

Heute kann man Schuberts Kompositionen ohne Piedestal und theatralische Illumination vielleicht besser hören als das, was sie sind: wunderbare Musik eines jung verstorbenen Komponisten, der im Schatten Beethovens gross wurde und im Wissen darum seinen eigenen Weg ging – namentlich in der Klaviermusik. Eines seiner überragenden Werke ist die B-Dur-Sonate von 1828. Auch wenn sie teilweise nach dem übergrossen Vorbild Beethoven klingt, ist sie doch ein ganz eigenständiges Stück. An zwei Elementen sei Letzteres verdeutlicht. Das erste wird oft als «Schicksalstriller» bezeichnet, das zweite nenne ich mangels einer besseren Bezeichnung die «Koboldoktave».

Im ersten Satz «Molto moderato» erscheint gleich im achten Takt zu ersten Mal der in der Tiefe leise grummelnde Triller. Er liegt unter einem F-Dur-Dominantakkord im Pianissimo, dauert einen ganzen Takt lang und mündet auf dem F in die gespannte Erwartung einer Rückkehr zur Haupttonart. Der abgedunkelte Triller ist eigenartig. Man denkt an ferne rollenden Donner, nahende Gefahr, womöglich gar Kriegslärm. Die beunruhigende Wirkung ist umso grösser, da die ruhige gesangliche Exposition des Satzes auf keine derart düsteren Effekte hinführt. Nach dem Triller geht es erst einmal weiter, als wäre nichts gewesen. Doch im 18. Takt fällt man erneut hinunter ins Dunkel, diesmal mit einem über drei Schläge pianissimo laufenden Zweiunddreissigstel-Geflirre, das schliesslich in Sechszehnteln abstiegt bis zum tiefsten Ges.

Am Ende der Reprise in der Mitte des langen ersten Satzes erscheint das Motiv des Grummelns in der Tiefe erneut, jetzt aber in Fortissimo. Ist die Bedrohung nun nahe gerückt? Oder meldet sich eine lange ausgeblendete und verdrängte Irritation mit Nachdruck zurück? Im zweiten Teil des Kopfsatzes lässt sich die Stimme aus der Dunkelheit dann nicht mehr bannen. Sie kehrt mehrfach wieder, zunächst erneut als brüske Abschattung. Am Schluss des Satzes sodann folgt der Triller wie zu Beginn auf das gesangliche Thema. Jetzt aber behält er das letzte Wort, auf das nur noch die verhaltenen Schlussakkorde folgen. Der ganze reich ausgestaltete Satz erscheint als ein Gang hin zu der Annahme eines dunklen Rätsels, das sich nicht auflösen und ebenso wenig wegschieben lässt.

 

Die These, Schubert habe mit diesem Motiv eine Todesahnung in Töne gesetzt, ist verlockend. Vermutlich allzu verlockend. Sie passt einfach zu gut zum populären Schubert-Bild und zum Narrativ des früh verstorbenen jungen Genies. Doch ein Blick auf das Klangbild des damaligen Klaviers macht die weihevolle Lesart fraglich. 

 

Das gern als «Schicksalstriller» bezeichnete Element klingt zwar auf dem modernen Konzertflügel tatsächlich wie ein unheimliches Donnergrollen. Doch auf einem Fortepiano, wie Schubert es kannte, bleibt der Triller klar strukturiert, trotz der Tiefe klingt er viel heller. Da ist kein Raunen, nichts Wolkiges, Düsteres. Die Wirkung, die Schubert anvisierte, war eine andere als die, die wir heute im Konzertsaal hören. Sowohl in der Pianissimo- wie in der Fortissimo-Version überrascht der Triller, setzt er Kontraste und – vor allem am Schluss der Reprise – markiert er Aggression. 

 

Aber Todesahnung? Eher vermute ich ein kompositorisches Experimentieren mit hoch expressiven Kontrasten. Beethoven hat bei pianistischer und orchestraler Exklamation musikalisches Neuland erschlossen. Doch Schubert geht einen Schritt weiter: Er entdeckt den Schock im Leisen und macht ihn zum Thema einer gross angelegten Komposition. Der leise «Schicksalstriller» nähert sich der Vorstellung einer dröhnenden Stille.

 

Im vierten Satz «Allegro, ma non troppo» gibt es ein weiteres höchst auffälliges Element. Das in der Paralleltonart g-Moll stehende Stück beginnt gleich mit einem kräftigen Oktavschlag, der in der Durchführung des Satzes dann immer wieder auftaucht, ein zweites Mal schon im zehnten der kurzen Zweiviertel-Takte.

Es ist ein heiter gestimmter, tänzerischer Satz (von wegen Todesahnung!), mit dem die grosse Sonate schliesst. Schubert legt seiner Fähigkeit zur Erfindung eingängiger und berückend harmonisierter Melodien keinerlei Zügel an. Bloss lässt er dann am Ende einer Liedphrase diesen unvermittelten Akkordschlag wie einen Kobold hinter der Ecke hervor flitzen. Das sich munter drehende Karussell ist brüsk gestoppt – doch nur, um nach dem Break sogleich einen neuen Anlauf zu nehmen. Dann geht der fröhliche Jahrmarktbetrieb weiter, doch schon bei Takt 64 ist der Kobold wieder da. Und es ist noch lange nicht das letzte Mal in diesem Satz.

Die Interventionen des Oktavkobolds sind jeweils sowohl Abbruch einer liedartigen Periode wie Auftakt zu einer neuen. Die Insistenz, mit der das Motiv immer wieder überraschend auftaucht, hat etwas Witziges an sich: Ätsch, da bin ich wieder! 

 

Doch wäre es nur das, müsste man von einem kompositorischen Gag reden. Schuberts Einwürfe sind aber durchaus nicht banal. Sie sind auch Einsprüche gegen eine zuweilen zur Harmlosigkeit tendierende Lieblichkeit des Liedmotivs. Dieses trällert in der Tat da und dort recht unbeschwert vor sich hin. Doch die Breaks werfen das Tänzchen auf sich selbst zurück, bringen es auch mal in harmonische Schräglage, veranlassen es, sich auf motivische Umwege zu begeben und sorgen auf diese Weise dafür, dass aus schlichtem Material eine reich gegliederte Komposition wird. 

 

Wie es den Schmutzpartikel braucht, damit vereisender Wasserdampf zur Schneeflocke kristallisieren kann, bedarf es in diesem lieblichen «Allegro, ma non troppo» des Fremdkörpers eines Oktavschlags, damit kein Kitsch herauskommt, sondern raffinierte, witzige Kunst. 

 

Schubert ist auch im vierten Satz der B-Dur-Sonate kühn und geht eigene Wege. Soweit ich weiss, hat solche Breaks vor ihm niemand geschrieben. Und nach ihm kamen sie vermutlich erst im Jazz wieder.

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