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Wort-Askese: «sehr»

 

Wörter, über die man sich ärgern kann, weil sie nicht sein müssen. Ein Luxusproblemchen, gewiss. Aber ein wenig Luxus soll schon sein.

 

«Sehr» ist ein Wort, über das ich mich manchmal ärgere, wenn ich es selber gesagt oder geschrieben habe. Es ist fast immer überflüssig: weil die Steigerung, die es ausdrückt, unnötig ist; weil es bloss zur Aufplusterung des Sprechers herhalten muss; weil es, wenn schon gesteigert werden soll, in jedem Fall genauere, gehaltvollere, elegantere Ausdrucksweisen gibt.

 

Das zum Füllwort degenerierte «sehr» war im Mittelhochdeutsch ein kraftvolles Eigenschaftswort mit der Bedeutung «gewaltig», «heftig» oder «wund». Noch ein paar Jahrhunderte früher, im Althochdeutsch, bedeutete es «schmerzlich», «traurig», «betrübt», «hart». Die alten Bedeutungsschichten sind aufbewahrt im neuhochdeutschen «versehren». Von diesem Verb haben wir nur noch das abgeleitete Adjektiv «unversehrt» im aktiven Gebrauch.

 

Zuviel «sehr» versehrt den Text. Unnötige, weil durch inflationären Gebrauch entleerte Vokabeln setzen die Rede ins Zwielicht. Wer seine Mitteilung mit Nichtigkeiten aufbläst, ist nicht bei der Sache oder ist sich über das Mitzuteilende nicht im Klaren. 

 

Das Gegenstück hierzu ist die verbale Askese. Sie ist Ausdruck einer Haltung, die das Reden und Schreiben vorrangig nicht als Selbstdarstellung versteht, sondern als Austausch mit dem anwesenden oder imaginierten Gegenüber. Sie traut den Angesprochenen zu, die Wörter verstehen und wägen zu können, die Sätze und Gedankenketten zu überblicken und den Text als ganzen eigenständig zu beurteilen. Ein so vorgestelltes Vis-à-vis behelligt man nicht mit leeren Worthülsen.

 

Askese verlangt dauernde Übung und unablässige Selbstkontrolle. Exerzitien sind ihre Praxis. Diese nimmt vermeintliche Kleinigkeiten wichtig, weil es in allem um die Einübung einer Haltung geht. So ist denn auch die Wort-Askese beim Gebrauch des kleinen, unbedeutenden «sehr» keine Nebensache.

 

Mal sehen, ob es gelingt, in meine Rede- und Schreibpraxis des Alltags wenigstens Momente eines solchen Exerzitiums einzuschieben.

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Kommentare: 2
  • #1

    Michael Lang (Mittwoch, 17 November 2021 12:43)


    Merci für die träfe "Wort-Askese: "sehr"" - Botschaft", lieber Urs.
    Herzlich, wünsche Gutes M

  • #2

    Martin Peier (Mittwoch, 17 November 2021 15:34)

    Danke für deine dienliche Erörterung. Die Versehrung hat spätere Nachkommen wie irrsinnig und wahnsinnig… Spannend finde ich dabei, dass die Verstärkungen allesamt in ihrer Bedeutung Negative sind, die das Positive zu steigern versuchen. Heute kämen da wohl noch hinzu: krass, mega, voll… Diese zeigen, wie offenbar gering die Konturen der Verstärkung heute sind. Da ziehe ich die von dir vorgeschlagene Askese gern vor. Sehr gern ;)