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Skulpturale Denkmaschine am Zürichsee

Über sieben Meter hoch, aus weissen Vierkantstäben gebildet, leer, schweigend: eine Aufforderung zum Schauen und Sinnieren – und zum Erkunden, weshalb Kunst schön ist.

Beim Schiffsteg Wollishofen am Zürichsee steht die Grossplastik «Axiomat». Florin Granwehr (1942–2019) hat sie 1989/90 geschaffen. Seine markanten Werke sind in Zürich mehrfach präsent: «Raumwandler» auf dem Campus Irchel, «Transeunt» beim Personalhochhaus des Universitätsspitals oder «Angulon» im Innenhof des Bezirksgebäudes. Granwehrs Arbeiten stehen immer in einem reflektierten Bezug zu ihrem Umfeld, sie interagieren mit Landschaft und urbanem Raum, korrespondieren mit dem «Geist des Ortes».

«Axiomat» ist eine Erkundung von Ästhetik und Spielmöglichkeiten des rechten Winkels. Dieser, ein mathematisches Abstraktum, bildet zugleich eine Naturkonstante ab, nämlich die Beziehung zwischen einer auf dem Wasserspiegel liegenden Linie und einem Lot. Der rechte Winkel als Angelpunkt geometrischer Gesetzmässigkeiten einerseits und als Orientierungsmass technisch-handwerklicher Artefakte andererseits deutet darauf hin, dass die Abstraktionen des Geistes und die Realien der Natur verlässlich verbunden sind. Seit René Descartes einen Dualismus von Geist und Materie als Grundstruktur allen Erkennens ausgemacht hat, ist diese Verbindung trotz ihrer intuitiven Plausibilität fundamental problematisiert. Mit «Axiomat» hat sich der Künstler in eine Zone begeben, in der das scheinbar Selbstverständliche ans Unbegreifliche rührt. 

Granwehr hat die mathematisch-philosophischen Hintergründe seiner Arbeiten immer genau erkundet. Die scheinbare Einfachheit seiner Skulpturen und Zeichnungen geht aus sorgfältig entwickelten Konzepten und Gesetzmässigkeiten hervor. Dabei ist er gleichermassen forschender Theoretiker wie penibler Handwerker. Die gedanklichen Strukturen sind in technisch perfekte Objekte umgesetzt, die bis ins Detail mit der gestalterischen Idee konsistent sind.

«Axiomat» ist aus der Elementarform des Würfels entwickelt. Diese repräsentiert die abstrakten drei Dimensionen des Raums anschaulich mit zwölf gleichlangen Kanten, die in lauter rechten Winkeln zueinanderstehen. Der Würfel umschliesst eine gedachte Kugel, die andere räumliche Elementarform. Steht die Kugel für die Idealform der Natur, der sich etwa die Himmelskörper annähern, so repräsentiert der Würfel das geistige Konstrukt der Dimensionen, welches das Phänomen des Raums erfasst und die Orientierung in diesem erlaubt.

Das Würfelgebilde am Seeufer ist aber auch in die konkrete Szenerie der Uferzone am unteren Seebecken eingeschrieben. Hier herrscht das technisch-zivilisatorische Eingreifen des Homo Faber lückenlos und unbarmherzig. Blickt man übers Wasser, so erscheint das gegenüberliegende Ufer übersät von Kuben. Es ist eine Welt des rechten Winkels. Der «Axiomat»-Turm spiegelt und verfremdet sie mit seiner augenscheinlichen Zwecklosigkeit. Über sieben Meter hoch ragt das dreiteilige Gebilde auf. Es erreicht etwa das Vertikalmass eines kleinen Bungalows, das Minimum dessen, was Wohnbauten in dem Areal ungefähr aufweisen. Dreimal «Menschenhöhe», so hat Granwehr das genannt, dreimal der Raum, den ein stehender Mensch braucht. 

Auf den ersten Blick glaubt man vielleicht drei aufeinander stehende Würfel zu sehen. Doch das stimmt nicht. Einen Würfel bildet lediglich der mittlere Teil. Beim untersten Würfelelement fehlen die Kanten an der Basis; an ihrer Statt kreuzen sich die Diagonalen, deren Profile zudem um einen halben rechten Winkel gedreht sind. Die Skulptur steht also nicht auf den Flächen von Balken, die das eigentlich erwartete Basisquadrat bilden würden, sondern auf den Linien einer kreuzförmigen, auf die Kante gestellten Konstruktion. So steht «Axiomat» zwar fest verankert an seinem Platz, doch der Bezug zum Boden ist minimiert. Geometrisch gedacht, sind ja die Kanten der konstruktiven weissen Elemente ausdehnungslose Linien. Sie evozieren das Paradox einer berührungslosen Berührung.

Das oberste, abermals um einen halben rechten Winkel gedrehte Element nimmt die Kreuzstruktur der Basis auf und macht sie zum Formprinzip: Statt der Aussenkanten des Würfels sind die Kanten der sich vertikal schneidenden Diagonalflächen ausgebildet. Einen Würfel sehen wir in dem obersten Element nur, weil die Skulptur sich als Variation der Würfelform darstellt. – Aber gibt es bei «Axiomat» überhaupt irgendwo einen Würfel?

Die Skulptur ist aus weiss lackierten Stahlprofilen mit gleichem quadratischem Querschnitt gebaut. Das Auge des Betrachters liest das Gebilde als drei in den Ausmassen gleiche, aufeinander gestellte Elemente, die mehr oder weniger zwingend eine Würfelform evozieren, aber allesamt keine Würfel sind. Sie umschliessen würfelförmige leere Räume oder – wie beim obersten Element – schreiben sich in einen virtuellen Würfelraum ein. Aber kann leerer oder gar virtueller Raum überhaupt eine Form haben?

Wie «Axiomat» zeigt, ist das augenscheinlich möglich. «Form» ist die leere, die noch nicht realisierte Möglichkeit des Wirklichen, die Potentialität des Realen. Damit sind wir bei Aristoteles und seiner die ganze abendländische Geistesgeschichte prägenden Philosophie. Nach seiner Auffassung geht Form der Materie voraus, die Potenz der Möglichkeit ist gegenüber dem Akt der Realisation stets prioritär. Dieses Denken hat nicht nur alle moderne Wissenschaft begründet, sondern auch die Kultur des Forschens und Erprobens sowie die Hochschätzung der Vorstellungskraft erzeugt.

Der Name der Skulptur setzt sich zusammen aus «Axiom» und «Automat». Florin Granwehr hat sie als eine Denkmaschine entworfen, die im Betrachter eine Bewegung zu den Basics der Wahrnehmung und des Denkens auslöst. Schön ist «Axiomat» auch ohne Descartes und Aristoteles. Doch mit den von Granwehr eingearbeiteten Bezügen wird darüber hinaus erkennbar, weshalb diese Skulptur schön ist.

 

Im Museum Haus Konstruktiv, Zürich, ist noch bis zum 16. Januar 2022 eine Werkschau zu Florin Granwehr zu sehen. Ich habe über sie in Journal 21 den Artikel «Mystik der Genauigkeit» veröffentlicht.

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