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Wiedergelesenes Meisterwerk

Nach langer Zeit ein Buch nochmals zu lesen, das einmal mächtig Eindruck gemacht hat, ist eine Erfahrung, in der man nicht nur das Buch, sondern auch sich selbst neu kennenlernt.

Als 1979 «Der Mensch erscheint im Holozän» erschien, war Frisch 68 Jahre alt und längst eine literarische und intellektuelle Instanz. Das schmale Buch mit dem Untertitel «Eine Erzählung» ist Frischs bestes Werk – so jedenfalls eine gängige Meinung, der ich mich anschliesse. Dieser Text ist klassisch in dem Sinn, dass er in Gehalt, Form und Sprache eine dichte, schlüssige Einheit bildet, die als singuläres literarisches Kunstwerk dasteht. Auch wenn die Kategorie des Meisterwerks zu Frischs immerfort suchender Haltung, seinem tastenden Schreiben kaum passen will, ist hier der Begriff ganz einfach am Platz. 

 

Die Erzählung handelt vom Altern und von den letzten Dingen, die hier brutal konkret sind. Ein Mensch, er heisst immer nur Herr Geiser, entgleitet sich selbst. Was er festhalten will, verliert Sinn und Bedeutung. Trotz energischem Eigensinn rutscht er ab in Hilflosigkeit. Herr Geiser lebt allein in seinem Haus im Onsernonetal. Dauerregen hat die Hänge ins Rutschen gebracht. Das Dorf ist seit Tagen abgeschnitten.

 

Den Anfang des Buches habe ich nie vergessen: «Es müsste möglich sein, eine Pagode zu türmen aus Knäckebrot…» Der Satz schwebt zwischen Figurenrede und Erzählerposition, und dieser Schwebezustand zieht sich durch die ganze Erzählung. Herr Geiser versucht seinen Platz in der Erdgeschichte festzustellen, indem er Lexikonartikel aus Büchern ausschneidet und an die Wände heftet. Obwohl der Erzählfluss nie abreisst, bestimmt das Formprinzip der Zettel, der Fragmente, des Aufblitzens den ganzen Text. 

 

Herr Geiser ist in einer radikalen Weise allein. Die Erinnerung an seine verstorbene Frau Elsbeth verblasst allmählich. Er nimmt gar ihr Bildnis von der Wand, um Platz für weitere Zettel zu bekommen. Ein unbestimmter Jemand bringt Minestrone zum Aufwärmen, aber der Strom ist ausgefallen, irgendwann schüttet er die Suppe in die Brennnesseln im Garten.

 

Unversehens bricht er auf und wandert im Regen über den Säumerpass, der nach Aurigeno im Maggiatal führt. Will er dem blockierten Onsernonetal entkommen, nach Basel reisen, wo seine Tochter lebt? Der Weg ist beschwerlich, Herr Geiser verliert im Nebel die Orientierung, droht beim steilen Abstieg zu stürzen. Als er es fast geschafft hat – Aurigeno ist in Sicht –, kehrt er um und muss nun bei Nacht und Regen den Weg mit der Taschenlampe suchen. Wieder in seinem Haus, merkt er, dass Leute nach ihm rufen. Er jagt sie weg, wirft eine Tasse nach ihnen (glaubt er, ist aber nicht sicher). 

 

Wie ein Film kommt die Erinnerung an eine Besteigung des Matterhorns, die er vor langer Zeit mit seinem Bruder unternommen hat. Beide sind völlig überfordert, bringen sich durch eine Fehlentscheidung beim Abstieg in Gefahr und entkommen mit knapper Not. Dieser Flashback ist das unheimlichste Stück Literatur, das ich kenne. Es ist der glühende Kern dieser Erzählung der Verlorenheit, welche schonungslos besiegelt wird mit der Ankunft der von Anwohnern alarmierten Tochter: Sie redet mit dem Vater wie mit einem kleinen Kind.

 

Ich weiss nicht, wie oft ich «Der Mensch erscheint im Holozän» nun gelesen habe, drei Mal mindestens. Viele Sätze habe ich wiedererkannt, obschon die letzte Lektüre über zwanzig Jahre her sein muss. Diesmal hat mich das Buch mit fast erschreckender Kraft getroffen. Es liest sich wie das vorweggenommene Bild unseres katastrophischen Zeitgefühls. Oder liegt es vielleicht daran, dass ich jetzt etwa in Herrn Geisers Alter bin? Das Buch hat auf mich gewartet und mir die Tür aufgehalten für einen Blick auf das Stadium kollektiven und individuellen Lebens, da die letzten Dinge brutal konkret werden.

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