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Skandalöse Preise

Nötig wäre ein Preisüberwacher, der nicht gegen überhöhte, sondern zu tiefe Preise vorgeht. Ein Beispiel von vielen: Ein Kilo Poulet aus der Schweiz wird für weniger als sechs Franken verkauft. Vielleicht muss man daran erinnern, dass Poulets Hühner sind oder jedenfalls Tiere, die eigentlich Hühner werden wollten. Ein solches geschlachtetes und tiefgefrorenes Wesen ist für den Preis von zwei Cafés crème zu haben. Wie ist das möglich?

 

Die Website des Landwirtschaftlichen Informationsdienstes LID gibt Einblick in die Hintergründe. Die Geflügelzucht liegt in der Schweiz vorwiegend in den Händen von Familienbetrieben, die 5’000 bis 12’000 Tiere halten. Diese werden mit hochwertigem, vitaminisiertem Futter innert vierzig Tagen schlachtreif gemästet. Der vom Produzenten erzielte Preis eines zwei Kilo schweren Poulets beträgt angeblich knapp sechs Franken; davon entfällt über die Hälfte auf die Kosten des Futters, und dem Verkäufer bleibt ein Erlös von 50 Rappen pro Tier. Mehr als die Hälfte der in der Schweiz verkauften Poulets wird jedoch importiert, beispielsweise aus Ungarn, wo es Mastbetriebe mit über 100’000 Tieren gibt (Quelle: http://www.landwirtschaft.ch/de/wissen/tiere/gefluegelhaltung/pouletmast/ ). Der LID deutet an, dass Billig-Importe den Preisdruck anheizen und wenig Spielraum lassen für eine tierfreundlichere Haltung. Über die Zustände bei der Massen-Geflügelzucht, die brutalen fabrikmässigen Schlachtmethoden und die häufigen Kalamitäten mit verseuchtem Fleisch wird seit einiger Zeit immer wieder kritisch berichtet.

 

Die Poulets sind, wie gesagt, ein Beispiel unter vielen. Bei T-Shirts für zehn, Hemden für zwanzig, Jeans für dreissig und Vestons für siebzig Franken muss genauso gefragt werden: Wie sind solche Preise möglich? Wo werden die Sachen hergestellt? Unter was für Arbeitsbedingungen und zu welchen Löhnen?

 

Nach gängiger Lehre soll in einer Marktwirtschaft die Preisbildung dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen werden. Jede Art von hoheitlichem Eingriff in diesen Mechanismus führt demnach zu Verzerrungen, die sich in vieler Hinsicht negativ auswirken: schlechte Versorgung, Qualitätseinbussen, Innovationsverhinderung. Da jedoch Preisbildungen nicht immer nach dem markttheoretischen Idealmodell funktionieren, kennen wir die Institution des Preisüberwachers. Dieser greift bei von Behörden festgelegten Tarifen, nicht offenen Märkten oder Monopolen ein, falls sich ein Verdacht auf überhöhte Preise abzeichnet. Ordnungspolitisch ist diese Einrichtung durchaus umstritten, und ihre rein ökonomische Wirkung darf nicht zu hoch veranschlagt werden. Vermutlich liegt ihr Nutzen hauptsächlich in einer Signalwirkung. Jedes Verfahren des Preisüberwachers findet öffentlichen Widerhall, und eine Massregelung durch diese Instanz bedeutet für die betroffene Branche oder Firma einen Reputationsverlust.

 

Die Idee der Preisüberwachung könnte auch in umgekehrter Richtung funktionieren, nämlich in Gestalt einer Instanz, die bei zu tiefen Preisen interveniert. Sie würde anhand exemplarischer Fälle die Hintergründe und Auswirkungen unsinnig tiefer Preise aufzeigen. Im Unterschied zur bestehenden Preisüberwachung wäre dies jedoch keine staatliche, sondern eine von NGOs und Hilfswerken getragene Einrichtung. Ihre Wirkung würde ausschliesslich auf soft power beruhen, vermutlich aber in Sachen Signalwirkung der anderen Preisüberwachung nicht nachstehen.

 

Organisationen wie die Erklärung von Bern und viele andere verfügen über langjährige Erfahrung mit derartigen Aktionen. Die Idee einer Tiefpreis-Überwacherin würde dennoch einen Schritt weiter führen: Statt punktueller Kampagnen einzelner Organisationen würde eine permanente und breit abgestützte Einrichtung geschaffen, an deren Spitze eine öffentlich agierende und entsprechend bekannte Person steht. Die gewollte Parallelität mit der jetzigen Preisüberwachung würde ausserdem anschaulich zeigen, dass nicht nur zu hohe, sondern auch zu tiefe Preise problematisch sind. Und schliesslich könnte diese zweite Preisüberwachung ein breiteres Publikum für den Gedanken gewinnen, dass Markt und Konsum eine begleitende öffentliche Diskussion und Meinungsbildung benötigen, damit sie sich positiv entwickeln können.

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