· 

Das geschlossene Auge Gottes

Seltsamstes Zeichen im Bildervorrat der christlichen Ikonographie ist das «Auge Gottes»: ein streng blickendes in der Leere schwebendes Auge, situiert im Mittelpunkt eines liegenden Dreiecks, welches wiederum von einem Strahlenkranz umgeben ist. Ähnlich einem Verkehrszeichen hat es autoritativen Charakter, doch was genau es ge- oder verbietet, ist rätselhaft.

 

Dieses häufig gebrauchte Zeichen wurde erst spät ins visuelle Repertoire der Kirchen aufgenommen. Es stammt aus der Zeit des Barock und findet sich oft auf Retabeln von Altären oder sonstigen hoch oben platzierten Stellen in (meist katholischen) Kirchen. Im Protestantismus war es beliebt für Illustrationen pietistischen Schrifttums.

 

Der Zusammenhang mit Verkündigung im Geist der Gegenreformation oder mit geistlicher Pädagogik pietistischer Ausrichtung verdeutlicht die Botschaft des Zeichens. Sie erinnerte Messebesucher und fromme Leser an den allwissenden Gott, dem keine Sünde auf Erden verborgen bleibt. Die strenge, durchaus unheimliche Aura des Zeichens war gewollt: Gläubige sollten sich unter permanenter Beobachtung wissen, ins Auge gefasst von einem nicht zu täuschenden, alles sehenden und durchschauenden Richter.

 

Barocke und pietistische Frömmigkeit war – nicht nur, aber eben auch – ein Geschäft mit der Angst. Religiöse Autorität stützte sich auf eine metaphysische Konstruktion, in der Gott die Rolle des Überwachers einnahm. Dessen Macht würde sich dereinst endgültig im jenseitigen endzeitlichen Gericht erweisen – eine Ansicht, die zu jener Zeit Common Sense war und von kaum jemandem bezweifelt wurde. Auch rechnete man als durchschnittlich religiös geprägter Mensch damit, der richtende Gott könne nach seinem Gutdünken beliebig ins gegenwärtige Diesseits eingreifen, sei es belohnend oder strafend.

 

Wo das – vorläufig im Diesseits noch – nicht geschah, waren es quasi stellvertretend die geistlichen Autoritäten, die mit moralischen Urteilen oder auch mit robusteren Mitteln der göttlichen Gerechtigkeit Nachachtung verschafften. Tiefe Wirkungen zeitigte zudem die allgemeine religiöse Weltsicht, welche die Gläubigen in einer Weise konditionierte, dass sie sich durch ihr schlechtes Gewissen selbst bestraften, wenn sie der kirchlichen Moral nicht genügten.

 

Der bildende Künstler Luciano Fabro (1936-2007), einer der wichtigsten Vertreter der in den 60er Jahren in Italien entstandenen Arte-povera-Bewegung, hat das Auge-Gottes-Zeichen gemäss kirchlicher Tradition als Objekt gestaltet – aber eben: mit einem geschlossenen Auge. Das grossformatige Werk (ironischerweise passend für die Platzierung in einer Kirche) stammt von 1969 und ist tatsächlich auch betitelt mit «Das Auge Gottes».

 

Bittere Ironie ist gewiss das erste, was aus dem Objekt spricht. Was alles doch die oberste himmlische Autorität der Kirche anscheinend nicht sieht! Gegenüber der traditionalistisch-katholischen Amtskirche, die ihre irdische Hierarchie umstandslos ins Metaphysische verlängert und Gott quasi in Geiselhaft nimmt für ihre absoluten Wahrheitsansprüche, ist solcher Sarkasmus durchaus am Platz: Ein derart vereinnahmter Gott könnte nur einer sein, der die Augen verschliesst vor dem, wofür er geradestehen soll.

 

Mit dieser handfesten Aussage interpretiert Luciano Fabro seine Zugehörigkeit zur Arte povera vermutlich ganz bewusst auch in einem kirchenkritischen Sinn. Indem er die «Armut» des Werks als provokative Gegenposition zur mächtigen und reichen Kirche in Szene setzt, knüpft er an die christliche Protestgeschichte der Armutsbewegungen an, welche die etablierte Kirche immer wieder von innen her in Frage gestellt und herausgefordert haben. Solche Bewegungen haben zwar den materiellen Reichtum der Kirchenoberen kritisiert, aber im Kern ging es ihnen mehr noch darum, klerikale Machtansprüche und Herrschaftsstrukturen mit ihrem Ruf zu christlicher Demut zu unterminieren.

 

Wenn Gottes Auge geschlossen ist, trifft den Betrachter kein autoritär unterwerfender Blick. Das geschlossene Auge herrscht nicht. Es zeigt eine in sich gekehrte, vielleicht auch eine aufmerksam hörende Haltung. Mystik ist ein «Sehen» mit geschlossenen Augen; das griechische myein, von dem das Wort Mystik kommt, heisst die Augen schliessen. Auch die christliche Mystik war eine kirchen- und herrschaftskritische Strömung.

 

Luciano Fabros «Das Auge Gottes» ist keine platte Provokation, sondern erweist sich als vielschichtiges, bedeutungsreiches Kunstwerk. Es ist in der Ausstellung «Arte povera» im Kunstmuseum Basel noch bis 3. Februar 2013 zu sehen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0