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Der Papst auf dem Prüfstand

In Äusserungen des Papstes taucht er regelmässig auf: der Relativismus. Der Papst warnt vor ihm, er beklagt sein Überhandnehmen in der westlichen modernen Welt. Neulich hat er ihn wieder als Ursache wachsender Gewalt identifiziert.

 

Um den Begriff des Relativismus gibt es eine breite und differenzierte philosophische Debatte. In den Auslassungen des Papstes findet sich jedoch kein Bezug auf sie. Er benützt den Terminus als Schlagwort, das die Relativität moralischer Werte als Defizit der modernen Gesellschaft brandmarkt – oder mehr noch: Mit Relativismus meint er eine Haltung, welche die Relativität der Werte nicht bloss hinnimmt, sondern ausdrücklich gutheisst, ja sogar propagiert.

 

Und dies gefällt dem Papst nicht. Nach seinem Verständnis sollen die von der katholischen Kirche propagierten Werte nicht nur für die Gläubigen, sondern für alle Menschen absolute Geltung haben. Er hängt einer Vorstellung an, wonach seine Kirche als Hüterin der geoffenbarten göttlichen Wahrheit ausserhalb der irdischen Begrenztheiten steht und deshalb einen privilegierten Zugang zu der einen, absolut und unbegrenzt gültigen Wahrheit besitzt.

 

In dieser Weise ausgedeutscht, wirkt der päpstliche Anti-Relativismus möglicherweise etwas schroff. Das wird man sich im Vatikan auch gesagt haben (man ist ja dort nicht weltfremd). Da wirkt eine intellektuell verbrämte Absage an den Relativismus doch etwas freundlicher. Sie macht geradezu den Eindruck einer Überlegung, an der irgendwie was dran sein könnte. Ist es denn nicht wirklich eine Not, wenn alle denken, was sie wollen und handeln, wie sie es für richtig halten? Man sieht ja, was dabei herauskommt!

 

So machen wir denn einen Versuch und lassen uns ein auf die päpstliche Zeitdiagnose: Der Relativismus sei eine Ursache der zunehmenden Gewalt in der Gesellschaft, meint er. Der Gedankengang ist nicht ganz leicht zu entwirren. Formuliert der Papst ihn mit Blick auf gewalttätige Konflikte im Grossen? Wie man die vatikanische Rhetorik kennt, ist dies wohl nicht der Fall. Auf diesem Feld redet man eher von Dialog und Frieden.

 

Offensichtlich denkt der Pontifex bei seiner Warnung vor Relativismus eher an den Bereich der zwischenmenschlichen Verhältnisse. In unklaren, weil vom Relativismus angekränkelten Werten und Normen sieht er demnach die Ursache für gewaltförmige Beziehungen. Kennten die Menschen unbezweifelbare moralische Regeln, so die Botschaft des Papstes, dann gäbe es weniger Gewalt.

 

Diese Aussage ist höchst interessant, denn damit unterwirft der Papst die von ihm für absolut genommene Wahrheit einer empirischen Überprüfung. Der Test besteht in der Untersuchung, ob Gesellschaften, in denen kein Relativismus herrscht, weniger Gewalt kennen.

 

Historische und soziologische Befunde machen es der päpstlichen These schwer. Autoritäre Kulturen, abgeschlossene Milieus, absolutistische Staatsformen, totalitäre Ideologien: Sie alle sind geradezu gekennzeichnet von einem hohen Grad an latenter und manifester Gewalt.

 

Relativismus für Gewalt verantwortlich zu machen, ist sachlich zumindest in der pauschalen, schlagwortartigen Form nicht haltbar. Auf dem Prüfstand der Fakten fällt die päpstliche Warnung in sich zusammen wie ein misslungenes Soufflé.

 

Trotzdem wird genau dieser schwammige Relativismus-Vorwurf von Herrschenden aller couleurs immer wieder zur Rechtfertigung ihrer Regime benützt. Die meisten dieser Autokraten haben jedoch gegenüber dem Papst den Vorteil, für den Erhalt ihrer Macht nicht auf Argumente angewiesen zu sein.

 

Was wäre denn das Gegenstück zu dem vom Papst beklagten Relativismus? Richtig: Absolutismus.

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