· 

Unsicherheiten

Wir – die Glücklichen, die unter privilegierten Bedingungen in einem geordneten, prosperierenden Land leben – sind es gewohnt, dass die Strassen gereinigt sind, Trams und Züge nach Fahrplan verkehren, täglich Zeitungen und Post im Briefkasten liegen. Was wir an Lebensmitteln und Gebrauchsartikeln benötigen, bieten die Geschäfte an, und wir können es bezahlen. Kaum im Internet bestellt, ist die Ware schon geliefert und der Kaufpreis der Kreditkarte korrekt belastet. Amtsstellen und Ordnungshüter, wenn wir denn mal mit ihnen zu tun haben, behandeln uns anständig und erwarten kein Bakschisch. Wir verlassen uns drauf, bei Krankheiten, Unfällen und Extremsituationen auf rasche professionelle Hilfe zählen zu können. Stromausfälle und Wasserunterbrüche erleben wir als seltene Abenteuer. Kontoauszüge und Abrechnungen sind fast irritierend präzis. Das Mobiltelefon hat immer Empfang. Im Winter ist die Wohnung geheizt. Beim Duschen fliesst das Wasser reichlich und angenehm warm.

 

Hinter den Annehmlichkeiten des Alltags steckt eine kaum überschaubare Vielfalt von kulturellen Leistungen. Dazu gehört ein Ozean von Wissen und Fähigkeiten, sozialen Kompetenzen und verinnerlichten Regeln. Die meisten Individuen haben gelernt, sich an Moral, zivilisierten Umgang und praktische Tugenden zu halten, und die Gesellschaft verfügt über Mechanismen und Institutionen, die ihr zumindest die Chance geben, sowohl gegen Verstösse und Fehlentwicklungen vorzugehen wie auch auf neu auftauchende Probleme zu antworten. So etwas kann als zielgerichtete Suche oder konfliktreiche Auseinandersetzung ablaufen oder in Zerreissproben ausarten. Soziale Harmonie ist nie definitiv gesichert; umso erstaunlicher, dass sie  – zumindest aus Sicht der Glücklichen, die unter privilegierten Bedingungen in einem geordneten, prosperierenden Land leben – doch meistens recht ordentlich funktioniert.

 

Man könnte eigentlich annehmen, dass Menschen, die sich in einem solchen Kosmos von zivilisatorischen Annehmlichkeiten eingerichtet haben, ein ziemlich sorgloses Leben führen. Das ist aber augenscheinlich nicht der Fall. Niemand ist frei von quälenden Unsicherheiten. Deren Ursache könnte banal erscheinen: Was man hat, kann man verlieren. Die Wirklichkeit hinter dieser simplen Weisheit ist allerdings nicht banal. Sie hat es in sich. Das Wissen um die Brüchigkeit persönlicher und gesellschaftlicher Errungenschaften hat zwar Sicherungsmassnahmen aller Art auf den Plan gerufen; diese sind jedoch der grundsätzlichen Unsicherheit genauso unterworfen wie jene Lebensumstände, die sie absichern sollen.

Diese Tatsache ist unüberwindlich und gilt zu jeder Zeit. Bankenkrisen, schwankende Weltwirtschaft, klamme Altersvorsorge und vieles mehr führen auch uns – den Glücklichen, die unter privilegierten Bedingungen in einem geordneten, prosperierenden Land leben – die Unsicherheiten des Daseins vor Augen. Unsere wohlgeordneten, komfortablen Lebensumstände sind weltgeschichtlich gesehen eine ziemlich einmalige Ausnahmesituation.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0