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Wer nur den lieben Gott lässt walten

Georg Neumark kam 1621 im thüringischen Bad Langensalza zur Welt. Drei Jahre zuvor hatte in Deutschland jener Schrecken begonnen, der als der Dreissigjährige Krieg in die Geschichte einging. Städte, Dörfer und ganze Landstriche wurden verwüstet. Die Menschen waren Hunger und Seuchen ausgesetzt. Jegliche staatliche Ordnung zerfiel; es herrschte Faustrecht. Die Lebensumstände müssen ähnlich gewesen sein wie heute in Somalia und anderen sogenannten failed States.

 

Nach Abschluss der Lateinschule in Gotha machte sich der neunzehnjährige Georg Neumark auf die Reise nach dem fernen Königsberg, um Jurisprudenz zu studieren und beim Poetikprofessor Simon Dach sein dichterisches Talent zu schulen.

Das Reisen war früher immer mit grossen Gefahren verbunden; mitten im Krieg um so mehr. Um nicht auf sich allein gestellt zu sein, schloss sich Georg Neumark einer Gruppe reisender Kaufleute an. Doch schon auf der zweiten Etappe ihres Weges zur Ostsee, in der Gardelegener Heide nördlich von Leipzig, wurde die Reisegesellschaft von einer plündernden Horde überfallen und ausgeraubt. Neumark verlor alles: Geld, Kleidung und Proviant. Mühsam schlug er sich in den folgenden Monaten durch über Magdeburg und Hamburg nach Kiel. Doch für die Schiffspassage nach Königsberg fehlten ihm jetzt die Mittel. In dieser Notlage gab ihm der Kieler Stadtarzt Unterkunft und Verpflegung fürs Überleben und suchte ihm eine Anstellung als Lehrer.

 

Armut, Abhängigkeit, Ungewissheit und der harte Winter stürzten den jungen Neumark in tiefe Verzweiflung. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt er sich als einen «abgeschälten und ausgeplünderten Menschen».

 

Doch dann zum Neujahr 1641 erhielt er endlich eine bescheidene Hauslehrerstelle. Auch wenn sie ihm nur ein kümmerliches Auskommen bot, war dies doch die ersehnte Wende. Überglücklich setzte er noch am ersten Abend des neuen Jahres Text und Melodie seines «Trostliedes» auf.

 

«Wer nur den lieben Gott lässt walten» ist zu einem der bekanntesten und beliebtesten Lieder deutscher Sprache geworden. Eingängige Melodie, beruhigend wiegender Sechsviertel-Takt und die von Wort zu Wort stimmige Verbindung von Text und Musik verleihen dem Lied eine wunderbare Ausdruckskraft. Überwindet man die Schwelle der altertümelnd-pietistischen Redeweise, so kommt einem der Inhalt sofort nahe. Mit seiner dunklen Moll-Tonart stellt sich das Lied an die Seite der Trostsuchenden. Nur in der zweitletzten der jeweils sechs Verszeilen wechselt die Melodie für zwei Takte in die parallele Dur-Tonart. Dieses kurze Aufleuchten hebt in jeder Strophe eine charakteristische inhaltliche Wendung hervor, die gewissermassen die Tür zum Trost aufstösst.

 

Neumarks «Wer nur den lieben Gott lässt walten» geht einem deshalb nahe, weil es aus der Erfahrung vitaler und persönlicher Not hervorgegangen ist. Das spürt wahrscheinlich auch, wer die Geschichte des Urhebers nicht kennt. Was das Lied ausdrückt, wirkt glaubhaft, obschon der Wortlaut eigentlich eine viel zu simple Glaubensgewissheit ausdrückt: Gott ist allwissend und allmächtig und wendet zuverlässig alles zum Guten. Nicht nur vom Standpunkt des Zweifels, sondern auch des Glaubens ist das als naiver Wunsch durchschaubar.

 

Nähme man den Text des Liedes als allgemein gültige religiöse Doktrin, so könnte man ihm nicht glauben. Denn es stimmt ja ganz einfach nicht, dass jedes Flehen erhört und jede Not gewendet wird. Die naive Gewissheit dieser Verse provoziert Widerspruch. Und trotzdem: Hört oder singt man das Lied, so berührt es tröstend. Wie ist das möglich?

 

Eine ähnliche Irritation geht auch vom Abschnitt in Jesu Bergpredigt aus, den wir gehört haben. Wir sollten uns nicht sorgen um Nahrung und Kleidung – oder im erweiterten Sinn: um das Lebensnotwendige und um das soziale Ansehen. Nur weil die Vögel zu leben haben und die Lilien prächtig blühen, sollen wir darauf vertrauen, dass Gott zu uns Menschen schaut? Wie denn das?

 

Als praktische Lebenshaltung ist dieses «Sorgt euch nicht» eigentlich unmöglich, denn wir sind aus guten Gründen sehr beschäftigt mit dem Sorgen und Vorsorgen für unsere Existenz und gesellschaftliche Position.

 

Und doch hat diese Jesus-Rede einen poetischen Zauber und eine subversive Überzeugungskraft. Denn was will man dagegen sagen, wenn es da heisst: «Wer von euch vermag durch Sorgen seiner Lebenszeit auch nur eine Elle hinzuzufügen?»

 

Das Wort «Sorge» heisst eben Verschiedenes. Heutzutage wird es meistens positiv im Sinn der Für- und Vorsorge gebraucht. In der Bergpredigt haben das «sich sorgen» und «die Sorge» jedoch einen negativen Beiklang. Hier meinen diese Wörter ganz klar das, was immer ihre erste Bedeutung war: Leben unter dem Prinzip der Furcht.

 

Die Jesus-Rede gegen das Sorgen ist keine Aufforderung zur Leichtfertigkeit. Sie richtet sich vielmehr gegen unsere eingeübte Haltung des Befürchtens und entwirft poetische Gegenbilder eines grundlegenden Vertrauens. Wer sich in dieser Weise nicht um sich selbst sorgt, ist eher dafür frei, sich für Gerechtigkeit – also für andere – einzusetzen. Das leuchtet als psychologischer Zusammenhang ein. Doch in der Jesus-Rede über das Sorgen läuft es gerade umgekehrt: Sucht zuerst nach Gerechtigkeit, dann wird Gott dafür sorgen, dass ihr habt, was ihr braucht und euch nicht ängstigen müsst. – Ist das vielleicht auch ein naiver Wunsch?

 

Jedenfalls bleibt eine Irritation, und die Frage ist unausweichlich: Kann man so unbesorgt sein? Nicht alle Opfer des Dreissigjährigen Kriegs hatten wie Georg Neumark das Glück, auf jemanden wie den Kieler Stadtarzt zu treffen. Weite Teile Deutschlands verloren in den Kriegsjahren 1618 bis 1648 bis zu 70 Prozent ihrer Bevölkerung. Das «Trostlied» erklang wahrlich in einer trostlosen Zeit!

 

Doch folgen wir den Spuren unseres Liedes durch die Zeiten. 1685, als die Kriegsfolgen noch schwer auf Volk und Land lasteten, kam in Eisenach, nicht weit vom Geburtsort Georg Neumarks, Johann Sebastian Bach zur Welt. Bach verwendete das populäre «Wer nur den lieben Gott lässt walten» mehrfach in Chor- und Instrumentalwerken. In der Kantate «Ich hatte viel Bekümmernis» gab er mit Neumarks Choral im drittletzten Stück Antwort auf die in der Kantate zuvor ausgeloteten Leiden und Nöte, und das geht so:

 

Die Solostimmen von Sopran, Alt und Bass vereinen sich über dem Text «Sei nun wieder zufrieden, meine Seele, denn der Herr tut dir Guts» zu einer komplexen, langsam voranschreitenden Fuge. Doch dann – erst fast unmerklich, aber allmählich immer deutlicher – hört man durch das Geflecht der solistischen Stimmen den Chor. Er schiebt Neumarks Trostlied als Cantus firmus unter die Fuge der Solostimmen. Bach trennt die einzelnen Verszeilen mit langen Pausen und verlangsamt sie erst noch um die Hälfte. Das wirkt, als ob er uns den Choral vorbuchstabierte. Jedenfalls verleiht er dem damals schon sehr beliebten Trostlied einen mächtigen Nachdruck.

 

Die Wirkung ist überwältigend. Das «Sei nun wieder zufrieden» der Solisten wird getragen von dem Choral «Wer nur den lieben Gott lässt walten», der wie eine auftauchende Erinnerung dem suchenden Gewusel der solistischen Fuge Festigkeit gibt.

 

Mit dieser musikalischen Antwort blendet Bach die Realität der Not und Sorgen nicht aus. Er hebt vielmehr kompositorisch hervor, was der Cantus-firmus-Choral dazu sagt: «Wir machen unser Kreuz und Leid/ nur grösser durch die Traurigkeit.»

Wir haben diese Verszeilen vorhin auch gesungen. Sie haben in der Moll-Melodie den Platz des kurzen Wechsels ins hellere Dur. Bei dieser zweiten Strophe kontrastiert der Tonartwechsel auffällig mit dem Inhalt der Worte: Es ist von Kreuz und Leid die Rede – und zwar in Dur. Bach hat diese zweite Strophe sehr bewusst gewählt. Es geht ihm darum zu zeigen, dass der musikalische Durchblick ins Helle und der sichere Boden des Cantus firmus eben gerade keinen billigen Trost versprechen.

 

Die Bekümmerten bekommen keine «Lösung», sondern eine Aufforderung zur Selbsterkenntnis: «Wir machen unser Kreuz und Leid / nur grösser durch die Traurigkeit.» Trost, so sagt der Choral, kostet die Anstrengung, Furcht und Traurigkeit im Zaum zu halten und den Blick zum Hellen zu richten.

 

Das war die Einsicht des neunzehnjährigen in Kiel gestrandeten Kriegsopfers Georg Neumark im eisigen Kriegswinter des Jahres 1640. Als Bach die Essenz dieser Glaubens- und Lebensweisheit in Musik setzte, war er ebenfalls ein junger Mann.

Die Aufführung der Kantate «Ich hatte viel Bekümmernis» ist dokumentiert am 17. Juni 1714 in Weimar. Es gilt aber als sehr wahrscheinlich, dass Bach diese Kantate oder eine Vor-Fassung davon bei seiner Bewerbung für die Organistenstelle in Magdeburg bereits im Advent 1713 aufgeführt hat. Vermutlich ist es also heute fast genau 300 Jahre her, seit sie zum ersten Mal erklungen ist.

 

Es mag Sie verwundern, wenn ich nun abrupt zu einem anderen Gedenktag wechsle, nämlich zum kürzlich begangenen 100. Geburtstag des Schriftstellers und Philosophen Albert Camus. Der erklärte Atheist hat mit seinem humanistischen Denken, seiner moralisch integren Haltung und seinen literarisch-philosophischen Werken immer wieder fasziniert.

 

Im Zweiten Weltkrieg hat Camus der französischen Résistance angehört. Er war Kommunist, hat sich aber nach den stalinistischen Schauprozessen vom Kommunismus getrennt. Viele seiner Weggefährten – besonders sein einstiger Freund Jean-Paul Sartre – nahmen ihm das sehr übel.

 

Aber was hat er mit unserem Trostlied «Wer nur den lieben Gott lässt walten» zu tun? Er selbst hätte über eine solche Frage wahrscheinlich gelacht und mit der Gauloise im Mundwinkel geantwortet:  Rien du tout.

 

Für den Philosophen Camus gab es nichts, was Sinn hatte. Am tiefsten Grund der menschlichen Existenz sah er nur das Absurde. Sein erster Roman, der zu einem Grosserfolg wurde, ist ein Monument des Absurden: «Der Fremde». Viele von Ihnen, da bin ich ziemlich sicher, haben das Buch irgendwann in der Schule gelesen – und haben sich vielleicht als Jugendliche seiner düsteren Weltsicht wiedergefunden.

 

Doch Camus blieb nicht stehen bei der Feststellung der Absurdität. Im Roman «Die Pest» geht er darüber hinaus. Das Buch erzählt, wie eine Epidemie über das algerische Oranhereinbricht. Zuerst will niemand wahrhaben, was da droht. Dann beginnt in der abgeriegelten Stadt das grosse Sterben. Camus zeigt alle Spielarten menschlichen Verhaltens in dieser Situation. Mitten im Geschehen steht der Arzt Rieux, der sich bedingungslos für die Kranken einsetzt, sich aber über die Aussichtslosigkeit seines Kampfes gegen die Seuche keine Illusionen macht.

 

Wahrscheinlich war der Stadtarzt von Kiel, der sich um 1640 für gestrandete Kriegsopfer einsetzte, auch so ein Typ wie Rieux. Camus demonstriert in diesem Arzt seine Philosophie des Standhaltens inmitten des Absurden. Damalige Leser erkannten in der Pest selbstverständlich eine Metapher für den Nationalsozialismus.

 

Nochmals: Was hat Neumarks Trostlied mit Rieux und Camus zu tun? Ein Hinweis könnte verborgen sein in der Art, wie Bach den Choral «Wer nur den lieben Gott lässt walten» als Antwort auf die Bekümmernisse der Menschen aufscheinen lässt. So wie Leid und Not real sind, bleibt das Absurde sinnlos. Doch wer sich dem stellt und es annimmt, wird nicht zermalmt, sondern kann leben. «Kreuz und Leid» werden dann nicht noch grösser als sie sind, und sie machen nicht endlos traurig. Vielmehr verleiht dieses Standhalten dem Leben eine Festigkeit, die wie der Cantus firmus in Bachs Kantate das Durcheinandergehen der Stimmen zusammenhält.

 

Camus hat zur Illustration dieses Lebenkönnens trotz der Absurdität die antike Sage von Sisyphos aufgegriffen. Sisyphos muss als Strafe für ein Vergehen auf ewig einen Felsbrocken den Berg hinauf wälzen, und immer, wenn er oben ankommt, entgleitet ihm der Stein und rollt zu Tal – worauf die Plackerei von neuem beginnt. Camus sagt dazu: «Der Kampf in Richtung Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.»

 

Camus litt an Tuberkulose und begab sich 1942 für einen Kuraufenthalt nach Le Chambon-sur-Lignon im Massif central, um dort an seinem Roman «Die Pest» zu arbeiten. Mit diesem Dorf hat es eine besondere Bewandtnis. Es war eine Zufluchtstätte für Menschen, die von Nazideutschland und vom Vichy-Regime verfolgt wurden. Camus hat das als Angehöriger der Résistance gewusst, und vermutlich hatte er auch Kontakt zum Haupt-Initianten dieser grössten Aktion zur Rettung von Juden im besetzten Frankreich.

 

Dieser entschlossene Opponent war Pfarrer André Trocmé. Er und seine Frau Magda Trocmé brachten die reformierte Gemeinde in dieser traditionell hugenottischen Gegend dazu, verfolgten Juden in grossem Stil Schutz zu gewähren. Dank weitreichenden internationalen Verbindungen wussten die Trocmés frühzeitig vom Holocaust und bereiteten die Gemeinde in Predigten und praktischen Vorkehrungen auf aktiven Widerstand gegen das Vichy-Regime vor.

 

Als dann die Juden ankamen, wurden sie von der Bevölkerung in Kurhäusern, abgelegenen Gehöften sowie in Internaten untergebracht, versorgt und wenn nötig mit falschen Papieren ausgestattet. Drohten Razzien, so versteckte man sie in entlegenen unwegsamen Zonen. Als die Polizei Pfarrer Trocmé wieder einmal verhaftete und zur Preisgabe der Verstecke zwingen wollte, sagte dieser: «Ich kenne keine Juden; ich kenne nur Menschen.»  

 

In Frankreich ist diese dramatische Geschichte sehr bekannt. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hat André und Magda Trocmé sowie Dutzende ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch die gesamte Gemeinde Le Chambon-sur-Lignon als «Gerechte unter den Völkern» geehrt. Es wird geschätzt, dass in den Jahren 1942 bis 1944 bis zu 5’000 Juden dort versteckt und ein Teil von ihnen auf gefahrvollen Märschen in die Schweiz geschleust wurden.

Am 3. Juni dieses Jahres wurde in Le Chambon-sur-Lignon ein «Lieu de mémoire», eine Gedenkstätte mit Museum, eröffnet, um die Erinnerung an diese Judenrettung lebendig zu erhalten.

 

Die Bürgermeisterin Eliane Wauquiez schrieb zur feierlichen Eröffnung: «In einer hugenottischen Gegend mit ihren rauhen und wilden Landschaften haben Männer und Frauen das getan, was ihnen gemäss war, nämlich ganz einfach ihre Pflicht.»

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