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Schönes sehen

Die Kamera ist, bevor sie zum Apparat zur Herstellung von Bildern wird, ein Gerät für das Sehen. Der fotografische Blick ist grundlegend bestimmt von einem Rahmen, behelfsmässig geformt von dem mit vier Fingern gebildeten Rechteck oder technisch definiert vom Sucher des Apparats. Welch weitreichende Abstraktion in diesem Vorgang liegt, kann niemand ermessen, der nicht die unwahrscheinliche Gelegenheit bekommt, ein „Bild“ – das in der klassischen Antike entstandene Tafelbild oder einen seiner modernen Nachfahren wie die Fotografie – zum ersten Mal im Leben bewusst zu sehen. 

 

Der rechteckige Ausschnitt visueller Wahrnehmung ist so vertraut und selbstverständlich, dass er vermutlich längst auf den Sehvorgang zurückwirkt. Die Konventionen, die einen Anblick als „schön“ qualifizieren, sind kaum mehr zu trennen von einer Bildästhetik, die ihre Muster und Regeln am (fast immer) rechteckigen Format visueller Darstellung ausrichtet: Komposition, Organisation des Bildraums, Farben, Formen, Darstellungs- und Abbildungsverfahren, sodann ikonische und narrative Gehalte sowie Funktionen der Repräsentation oder des Kults.

 

Bäume

 

Was als „schön“ ins Auge springt, haben wir unbewusst abgeglichen mit den in unserem visuellen Erfahrungsschatz hinterlegten Mustern des „Schönen“. Und diese Muster sind organisiert wie ein Album oder eine Bilddatenbank mit lauter Visuals, die in einen rechteckigen Rahmen passen. Nicht in der primären visuellen Wahrnehmung, sondern erst in deren Verarbeitung zum rechteckigen Bild kommen ästhetische Gesetzmässigkeiten zum Zug: horizontale, vertikale oder diagonale Gliederung, Parallelen, Teilungsverhältnisse wie Halbierung, ein Drittel zu zwei Dritteln oder Goldener Schnitt, Helligkeits- und Farbwerte, Strukturen, Sujets mit ihren Konventionen und Konnotationen, Genres und Typologien, kunsthistorische Zusammenhänge, künstlerische Vorbilder und vieles mehr.

 

Blumen

Bildschirmfoto 2014-07-30 um 15.44.53 

 

Wer Cy Twomblys formale Kalligraphien gesehen hat, besitzt so etwas wie ein ästhetisches Phantombild, das bei einem Foto von Gräsern und Blüten den Schock des Wiedererkennens auslöst. Es macht die gebogenen Stengel und Blätter zu elegant geschwungenen Zeichen, die Textur des Grases zum Text und die Blüten zu Illuminationen.

 

Wir sehen Schönes, wenn wir Beziehungen erkennen oder in eigener Kreativität herstellen. Bäume und Strukturen, Gräser und Kalligrafie sind nur zufällige Beispiele, die das Sehen mit der Kamera beim Wandern auf dem Darss zutage gefördert hat.

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