· 

Distanzieren – aber wovon?

Nach dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo wurde erneut und verstärkt der Ruf laut, die Muslime sollten sich vom gewalttätigen Islamismus distanzieren. Anders als bei früheren Aufforderungen aus ähnlichem Anlass haben musilimische Organisationen in Frankreich, in anderen Ländern und auf internationaler Ebene das denn auch rasch und unzweideutig getan. Französische Moslems beteiligten sich in zudem grosser Zahl an den überwältigenden Demonstrationen des letzten Wochenendes, die dem Terror das gemeinschaftliche Bekenntnis zu republikanischen Werten entgegensetzten.

 

Indem Muslime und ihre Organe den islamistischen Extremisten das Recht absprachen, sich auf die Worte des Propheten Mohammed zu berufen, zogen sie eine klare Trennlinie. Sie taten dies in solcher Deutlichkeit erklärtermassen auch deshalb, weil sie fürchteten, die bereits mit Nine-Eleven verglichenen Morde von Paris könnten auf die Gesamtheit der Muslime zurückfallen. Gerade in Frankreich, wo die Integration der grossen islamischen Minderheit (die Rede ist – ohne verlässliche Zahlenbasis – von über sechs Millionen oder zehn Prozent der Bevölkerung) ein wachsendes Problem ist, kann man diese Sorge der Muslime gut verstehen. Soziale Reibungen und Brandherde gibt es da seit langem. Und indem mit dem Front National eine schnell an Einfluss gewinnende politische Kraft die Integrationsprobleme destruktiv bewirtschaftet, steigen die Gefahren von Diskriminierung und Revolte. Die Lage kann schnell explosiv werden.

 

Neben der prompten Distanzierung gab es aber auch Stimmen – und zwar nicht nur unter Moslems – , die in der Forderung nach klarer Absage an den Terror eine Zumutung erblickten. Da werde nämlich gefordert, was nicht nur für jeden zivilisierten Menschen, sondern auch für den gelebten Glauben so gut wie aller Anhänger des Islam selbstverständlich sei. Eine solche Forderung sei im Grunde beleidigend und diskriminierend. Dies umso mehr, da entsprechendes von anderen Religionen nicht verlangt werde, obschon es bekanntermassen auch christliche, jüdische, hinduistische, buddhistische Extremismen gab und weiterhin gibt.

 

Die Aufforderung, sich von religiös motivierter und/oder legitimierter Gewalt zu distanzieren, ist im Grunde ein Ausdruck von Fremdheit. Sie ergeht stets an „die andern“ und kreidet ihnen ein Defizit an: Es fehle ihnen, so der mehr oder weniger deutlich ausgedrückte Vorwurf, an verantwortlicher Moral und aufgeklärtem Denken.

 

In dieser Defizitzuweisung aber steckt das Problem. Selbst wenn es zuträfe, dass die Religion und Kultur der „andern“, die man ja kaum kennt und versteht, solche Mängel hätte, wäre damit erstens schon rein logisch nicht gesagt, die eigene Religion und Kultur sei von derartigen Mängeln frei. Und zweitens ist eine solche Defizitzuweisung so oder so keine geeignete Avance für einen Dialog zwischen den Religionen, der Entwicklungen in Richtung Toleranz fördern oder in Gang bringen könnte.

 

Toleranz, Verantwortlichkeit und Aufklärung in religiösen Dingen beginnt immer auf dem eigenen Terrain. Religion ist im säkularen und multikulturellen Kontext, in dem wir (glücklicherweise!) nun einmal leben, rechenschaftspflichtig. Sich unter Berufung auf geoffenbarte Wahrheiten dem Forum offener Diskussion zu entziehen, gilt nicht. Religionen, die zusammenleben und nolens volens Dialoge führen, müssen fähig sein zu einer Unterscheidung zwischen ihren heiligen Überlieferungen und ausschliessend-objektiven Wahrheitspostulaten. Sätze wie „Gott hat gesagt“, „Gott will“ oder „Gott befiehlt“ sind auf dem säkularen Forum keine Argumente; es obliegt den diese Sätze glaubenden Gemeinschaften, solche Aussagen für ihre Anhänger in einer mit der Ökumene der Religionen verträglichen Weise verständlich und religiös praktikabel zu machen. Sie müssen das offen Militante und das unterschwellig oder strukturell Aggressive der eigenen Tradition bändigen und zivilisieren.

 

Treffen zwei Individuen aus unterschiedlichen Kulturen oder Religionen aufeinander ohne dass eins das andere unterwirft, so stellt sich die Frage eines Verhaltens zwischen diesen beiden Welten. Dieses „Dazwischen“ ist ein irgendwie neutral gearteter Raum. Der Westen hat sich angewöhnt, diesen als „säkular“ zu verstehen und mit Grundwerten (Allgemeine Menschenrechte), Instrumenten (kritische Vernunft) und Verfahrensregeln (offener Dialog) näher zu bestimmen. Andere Kulturen werden diesen Raum oder dieses Forum der globalen Begegnung vielleicht in eigenen Kategorien beschreiben wollen.

 

Etwas anderes als eine Art Niemandsland kann das „Dazwischen“ jedoch nicht sein. Deshalb gehört zu jeder Verständigung zwischen den Religionen und Kulturen die Herausforderung, aus dem eigenen Raum von Religion und Kultur herauszutreten, um eine Aussensicht auf sich selbst zu gewinnen. Dies ist die intellektuelle Distanzierung, die am Beginn der interreligiösen und interkulturellen Verständigung, ja eigentlich des Friedens steht.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0