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«Mehr Mitgefühl»

Ende dieser Woche findet der G20-Gipfel in Hamburg statt, und zuverlässig ruft er den üblichen Kontra-Aufmarsch hervor. Hunderttausend Leute werden erwartet, darunter ein paar hundert «Gewaltbereite». Der bunte Haufen wird aus ganz Europa kommen, um gegen Trump und Erdogan zu demonstrieren. Wesentlich leiser dürften die Proteste gegen Putin, Xi Jinping oder die Saudischen Herrscher ausfallen. Hingegen werden viele lautstark für Klimaschutz, für die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten, gegen Globalisierung und Freihandel und besonders gegen den Kapitalismus auftreten.

Gefordert werden schon im Vorfeld des Gipfels «Eine andere Politik» sowie «Grenzenlose Solidarität statt G20». So verschieden die Anliegen und Motive, so uneinheitlich die Auftritte und Protestmethoden, so einig ist sich die bunte Bewegung doch in der Überzeugung, dass man die Welt ändern kann, wenn man es denn will. Die tausendfach gezeigten Parolen heissen Gerechtigkeit, Solidarität, Ökologie, Selbstbestimmung.

 

Nicht alle folgen dem professionell organisierten Protest-Mainstream. Eine Frau hält ihren Karton hoch, auf dem mit Filzschreiber geschrieben steht: «Mehr Mitgefühl» – angesichts der geballten Macht der angekündigten G20-Staatschefs eine naive, fast schon rührende Geste. Doch die Devise hat zweifellos den Vorteil einer gewissen Anschaulichkeit. Mitgefühl ist eine Regung, die alle kennen. Zudem ist bekannt, dass sie ein entscheidendes Movens ist für zugewandtes Verhalten. Eigentlich ist «Mehr Mitgefühl» die bessere Parole als «Eine andere Politik» und «Grenzenlose Solidarität». Der Appell ans Mitgefühl kann vermutlich mehr Nachdenken bewirken als die altbekannten Politparolen.

 

Doch da ist auch ein Haken: Genauso wie die vertrauten Slogans der Alternativpolitik setzt sich dieses «Mehr Mitgefühl» dem Vorwurf aus, es liefere niemals konkrete Handlungsvorschläge, sondern hebe ab in die laue Luft der politischen Romantik. An Hoffnungen und Emotionen zu appellieren, gilt den Routiniers im politischen Geschäft als irrational, wenn nicht irreal.

 

Politische Romantik birgt in der Tat Gefahren in sich. Der so urteilende Skeptizismus hat dafür durchaus Gründe. Er beruft sich auf die Erfahrung, dass jede auf grundlegende Änderung zielende Politik sich früher oder später in den Anforderungen des Alltags verheddert und am Ende meist ganz anderes bewirkt als gedacht – nicht selten in katastrophaler Art. Mit dem Vorwurf, in politischer Romantik zu machen, sind nicht nur utopische Ideen konfrontiert, sondern alle Konzepte, die auf grundlegende Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft aus sind.

 

An dem Verdacht ist selbstverständlich einiges dran; bloss ist er auf fahrlässige Weise inkonsequent. Wenn schon, so müssten nämlich alle generalisierenden Ziele von Politik unter das Verdikt der politischen Romantik fallen, so etwa auch

  • die Idee der Globalisierung, weil sie noch niemals auch nur annähernd weltweit und umfassend realisiert wurde,
  • die Vorstellung von nationaler Souveränität, weil sie im Zeitalter globaler Interdependenzen nur in eingeschränktem Mass als Leitidee taugt,
  • das Konzept der umfassenden Freiheit, weil es, wenn es denn für alle gelten sollte, noch immer einer der grossen Menschheitsträume ist.

Politische Romantik grundsätzlich als unverantwortliche Politik diskreditieren kann eigentlich nur, wer allen hochgesteckten Zielen programmatisch abschwört und einzig das gerade am ehesten Machbare anvisiert. Motto: Durchwursteln. Solches «Fahren auf Sicht» kann eine Zeitlang funktionieren, aber es vermittelt in einer Gesellschaft weder Orientierung noch weckt es aufbauende Kräfte.

 

Forderungen nach Gerechtigkeit und Solidarität werden meist erhoben, ohne sie zugleich auch schon in der Form umsetzbarer Modelle zu konkretisieren. Ob sie aber so viel weiter von der Verwirklichung entfernt sind als die genannten Ideen der Globalisierung, der nationalen Souveränität und der Freiheit? Der einseitige Vorwurf der politischen Romantik suggeriert es. Doch das wäre zumindest zu diskutieren.

 

Parolen der Protestkultur zeigen keine Lösungen auf; sie fordern nur welche. Appellieren ist nicht Politik machen – und muss es auch nicht sein. Für letzteres sind primär die politischen Institutionen und Mandatsträger zuständig. Beispielsweise bei einem G20-Treffen. Wer dieses verhindern will (wie das offenkundig bedeutende Teile der Protestbewegung versuchen wollen), hat etwas nicht verstanden.

 

«Mehr Mitgefühl» ist vor diesem Hintergrund eine gute Parole. Sie ist inhaltlich zwar genauso unbestimmt wie die meisten anderen, aber sie rückt den Akteuren von G20 doch näher. Wäre schön, einige von ihnen bekämen die mit Filzstift auf ein Stück Karton geschriebene Aufforderung mit.

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