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Geblendet von der Supernova

Kann zu Prinzessin Dianas Tod noch irgend etwas Neues gesagt werden? Vom Gossenblatt bis zum Feuilleton, von der Talkshow bis zur Übertragung der Trauerfeier wurden in allen Rede- und Darstellungsformen sämtliche vorstellbaren Aspekte und Dimensionen des Ereignisses beredet. Weitere Berichte und Kommentare können nur noch aus lauter Wiederholungen bestehen. Zwar werden vielleicht die Verfahren gegen die Paparazzi und andere Ermittlungen bisher Unbekanntes zutage fördern, das die Informationsmaschinerie – möglicherweise über Jahrzehnte – immer wieder antreibt. Der Kult um die Prinzessin wird sich in Symbolen und Riten verfestigen, an Jahrestagen und Gedenkstätten hochbranden und dafür sorgen, dass der Wellenschlag der Diana-Meldungen nicht verebbt. In der hoffnungslosen Konkurrenz mit dem in die Unsterblichkeit und Vollkommenheit entrückten Medienprodukt Lady Di wird das verstaubte Königshaus der Briten immer rascher zerbröckeln. Der Mythos der jung Verstorbenen wird in der Populärkultur seinen festen Platz finden, und die Nachbeben der grossen Erschütterung werden Grossbritannien noch lange beschäftigen. Dies alles ist schon vorweggenommen. Die Variablen des Vermutens, des Spekulierens und Kommentierens sind durchdekliniert, der Raum der Möglichkeiten ist aufgespannt an den Achsen der Emotionen, der Anklagen und der Deutungen. Was noch kommen wird, hat darin im voraus seinen Platz. Gefühlsregungen, Informationspartikel, Reflexe und Thesen rund um das Sterben der „Königin der Herzen“ sind Teile eines expandierenden Universums, dessen Big Bang ein stockbesoffener Sicherheitsmann am Steuer eines schweren Mercedes ausgelöst hat. Die Gesetzmässigkeiten des Öffentlichen sind streng und geheimnisvoll wie die der Astrophysik.

 

Der Unfall auf der Pariser Schnellstrasse hat die erdumspannenden Netze der Medien in eine Erregung versetzt, wie sie nur wenige Male pro Generation vorkommt. Die Ermordung John F. Kennedys und die Mondlandung, der Fall der Berliner Mauer und jetzt Dianas Tod markieren die Dimensionen solcher Ausnahmezustände des Medienzeitalters. Die Exorbitanz derartiger Ereignisse liegt daran, dass Gefühle und Bedeutungen eine kritische Masse bilden und sich entladen in einer Verschmelzung, in der für kurze Zeit sozusagen die Gesetze der Kosmogonie regieren. Für Momente schiessen die Empfindungen der Menschen zusammen im Plasma des gemeinschaftlichen Schmerzes oder der Freude, in der alles verbindenden Innigkeit und der Utopie des Gutseins. Kommunikation schlägt um in Kommunion. Aus der momentanen Fusion der Individuen blitzt die Supernova der geeinten Menschheit auf.

 

In einem Ereignis, das die Dichte der kritischen Masse erreicht, sind alle Sprach- und Kommunikationsmöglichkeiten komprimiert. Es schleudert sie aus sich heraus und entwirft das Muster einer zwar immer noch komplexen, aber doch plötzlich überschaubar gewordenen Welt. Das vollständige Repertoire der Emotionen und Diskurse erscheint darin wie ein Programm, das nur noch mit Ausgangsdaten gefüttert zu werden braucht. Sobald es abläuft, vereinen sich die Potentiale sämtlicher Medien zu einem Kommunikationsgeschehen von der Wucht einer kosmischen Explosion. Schlagartig sind die Begrenzungen der Ressourcen Aufmerksamkeit und Empathie aufgehoben, ist die Trägheit der apparativen und sozialen Massen überwunden und lassen sich die Distinktionsbedürfnisse gesellschaftlicher Gruppen und Szenen fast widerstandslos ausser Kraft setzen. Die Gesamtheit der Medien klinkt sich ein ins Programm der kommunikativen Grenzsituation. Vereint bemühen sie sich, den Wurf der Totalität von Kommunikation einzuholen mit der minutiösen Ausbreitung aller im Ereignis angelegten Informationen, aller aus der Kombination der möglichen Meinungen und Gewichtungen generierten Kommentare und aller im Universum des Denkens angelegten Deutungen. Was die aus diesen Variablen erzeugte Vielfalt unterscheidet vom Bild des medialen Normalzustands, das ist der gemeinsame Bezugspunkt, der alles zueinander ins Verhältnis setzt. Leerstellen im System der möglichen Aussagen werden unter dem Druck der Explosion rasch aufgefüllt. Anzeichen dafür sind die Obskuritäten, die bei Ereignissen dieser Grössenordnung vorhersehbar und zuverlässig aufs Tapet kommen: Die Mondlandung habe nicht auf dem Mond stattgefunden, sondern sei von der NASA für das Fernsehen in einem Studio getrickt worden. Diana und Dodi seien nicht tot, sondern mittels eines arrangierten Scheinunfalls vor den Nachstellungen der Presse, der Windsors und der Geheimdienste in ihr Glück entflohen. Die simple Tatsache, dass solche Varianten als freie Spekulationen „möglich“ sind, schliesst sie ein in die Totalität, zu der das Medienecho in solchen Lagen tendiert.

 

Von welcher Art die Fakten und Ereignisse sein müssen, damit sie die Medienwelt in den unkontrollierten Zustand der unbegrenzten Spontanreaktionen versetzen, kann nicht allgemein gesagt werden. Erst im Rückblick stellt man jeweils fest, welche Komponenten den kritischen Zustand herbeigeführt haben. Im Fall des Todes der Lady Di erweisen sich die Erklärungsversuche als fruchtbar. Die zahllosen Leitartikel und Essays haben nebst Bergen von Unerheblichem auch unalltäglich Prägnantes hervorgebracht über Mediengesellschaft und Frauenbilder, über Tradition und Moderne, über Opferrollen, über die Kultur der Betroffenheit und manches mehr. Der Blitz der Supernova hat nicht nur geblendet, sondern auch erhellt. Doch spannender noch als die Besichtigung des Beleuchteten ist die Erforschung des Lichtphänomens. Nicht zufällig liegen die Metaphern der Kosmogonie so nahe bei der Beschreibung von Ausnahmezuständen der Mediengesellschaft. Kosmogonie erforscht physikalische Grenzzustände, um über das Wesen, ja selbst über Geschichte und Zukunft von Energie und Materie, Zeit und Raum Aufschlüsse zu gewinnen. Die Faszination der weltweit und schockartig die Menschen ergreifenden Ereignisse hat damit zu tun, dass in solchen Phänomenen sich Wesenselemente von Kommunikation nicht weniger geheimnisvoll zeigen als die physikalischen Bausteine des Universums. Die Grenzsituation ist hier wie dort ein Labor für Einblicke in die Tiefenstrukturen des Normalfalls. In einer Gesellschaft, die in der Ökonomisierung kommunikativer Vorgänge ihre wirtschaftliche Zukunft sieht, sind solche Einsichten nicht ohne Brisanz. Wir wissen letztlich nicht, was das ist, das Menschen verbindet und die Gesellschaft zusammenhält.

 

Diesen Text habe ich in der Oktobernummer 1997 der Kulturzeitschrift „Reformatio“ veröffentlicht über das Echo auf Dianas Tod, der sich morgen zum zwanzigsten Mal jährt. Der „Reformatio“-Artikel ist hier unverändert wiedergegeben.

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