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Pontigny und Proust

Angefangen hat es für einmal mit dem Detail eines Briefs Marcel Prousts, und von da ergibt sich eine Kette des Entdeckens und Wiederfindens. Ihre Teile greifen nach unterschiedlichen Logiken ineinander und bilden ein Kaleidoskop aus Fragmenten meiner Welt.

Proust schreibt im Juni 1910 an Georges de Lauris:

 

Kennen Sie Paul Desjardins’ ehemaliges Kloster Pontigny? Wenn ich mich für diesen so wenig komfortablen Aufenthalt gesund genug fühlen würde, würde mich das reizen. Sie nicht?

 

Das Stichwort Pontigny ruft sogleich ein Bild hervor. Die ehemalige Zisterzienserabtei liegt bei Chablis im Burgund. Als ich vor über zwanzig Jahren in einem Reiseführer das Foto der Kirche sah, war ich elektrisiert. Ich habe den Ort mehrmals besucht. Wie ein gestrandeter Wal liegt der turmlose Bau auf freiem Feld.

 

 

Bis auf ein etwas deplaziertes barockes Chorgestühl aus dunklem Holz ist die Kirche fast völlig leer. Schlichter Steinboden, weisse Wände, viel Licht aus grossen Obergadenfenstern. Die Bauweise spiegelt die Spiritualität der Zisterzienser, die durch Strenge und äusserliche Armut zu Klarheit und innerem Reichtum strebt.

 

Mit der Erfindung des Kreuzrippengewölbes – die 1140 bis 1170 erbaute Abbatiale de Pontigny gehört zu den ältesten erhaltenen Kirchen dieses Typus – war es den Baumeistern möglich, die Kirchenschiffe höher aufragen zu lassen und mit grösseren Fensteröffnungen zu versehen. Der Andachtsraum war nicht länger dunkel, sondern strahlte im Licht. Das dunkle Mittelalter wurde hell.

 

 

Die französische Revolution hob das Kloster Pontigny auf und zerstörte es teilweise. Immerhin blieb die Abteikirche verschont, war aber dem Verfall preisgegeben. 1909 ging sie in den Besitz des Philosophen und Schriftstellers Paul Desjardins über, der dort von 1910 bis 1914 und wieder von 1922 bis 1939 die „Décades de Pontigny“ durchführte, internationale Treffen von Intellektuellen, bei denen Zeitfragen diskutiert wurden. Teilnehmer dieser je etwa zehn Tage (daher Dekaden) dauernden Konferenzen waren unter anderen Antoine de Saint-Exupéry, André Gide, François Mauriac, Paul Claudel, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, T. S. Eliot, Thomas Mann, Heinrich Mann und Ernst Robert Curtius.

 

Der deutsche Romanist Curtius führt uns zurück zu Proust. Curtius war als dessen früher Anhänger und Interpret Wegbereiter der Proust-Rezeption im deutschen Sprachraum. Die beiden haben kurz vor Prousts Tod 1922 korrespondiert. Wann Curtius in Pontigny war, konnte ich nicht eruieren, doch selbst wenn dies in der Periode vor dem Kriegsunterbruch gewesen sein sollte, wäre eine Begegnung mit Proust ausgeschlossen gewesen. Eine Reise nach Pontigny war, wie wir schon wissen, für den bereits 1910 fast ständig schwerkranken Proust nicht möglich – und doch hätte sie ihn, wie er sagt, gereizt.

 

Die 1905 in Frankreich eingeführte strikte Trennung von Kirche und Staat hatte Verhältnisse geschaffen, in denen der Kauf aufgelassener Kirchen durch Private – wie in Pontigny die Übernahme der Abtei durch Desjardins – offenbar nicht ungewöhnlich war. Proust als völlig religionsloser Mensch war zur Überraschung vieler ein Gegner der durchgreifenden Säkularisierung. Er fürchtete um den Erhalt der kirchlichen Monumente. Ein Frankreich ohne Dorfkirchen, ohne Kathedralen in den Städten – das war ihm eine Horrorvorstellung. Das Land würde nicht nur ärmer aussehen, sondern seine Seele verlieren. Gerade deswegen muss ihm Desjardins‘ Initiative gefallen haben. Sie rettete nicht nur das Bauwerk, sondern gab ihm einen kulturellen Zweck, der dieser auf dem Spiel stehenden „Seele“ entsprach.

 

Wäre Proust nach Pontigny gekommen, so hätte er vielleicht nicht ausgerechnet Curtius dort getroffen, aber es ist kaum vorstellbar, dass ihm jener Epitaph in der Abteikirche entgangen wäre, der auch mich bei meinen Besuchen auf eigenartige Weise jedesmal in seinen Bann gezogen hat.

 

 

Die rautenförmige, in geradezu moderner Schlichtheit gerahmte Inschrift ist in den gleichen hellen Kalkstein gemeisselt, aus dem auch die Kirchenwand besteht. Sie lautet:

HIC EXPECTAT
RESURRECTIONEM
D EDMUNDUS ROBINET
hujus Archicoenobii Religiosis Sacerdos
expresse Professus qui hujusque Domus i Cellerare
deinde in diversis Monasteriis Prioris munus laudabiliter adimplevit
postea Senior hic manens tandem abdormivit in Domino
26 X.bris Anno Salutatis 1770 Aetatis suae 77
Conversionis vero 53. Sta Viator et Die
ANIMA EJUS REQUIESCAT
IN PACE AMEN

 

Hier wartet / auf die Auferstehung / Dom Edmond Robinet / Ordensmann dieses Klosters und Priester / der hier das Gelübde abgelegt hat und in diesem Haus Kellermeister war / dann in verschiedenen Klöstern das Amt des Priors in lobenswerter Weise ausübte / Danach blieb er im Alter hier, zuletzt entschlief er im Herrn / am 26. Dezember im Jahr des Heils 1770 im 77. Altersjahr / im 53. seiner wahren Bekehrung. Halt ein, Wanderer und sage (?)/ Seine Seele ruhe / in Frieden, Amen.

 

Das klingt nach gradlinigem Leben in einer geordneten Welt. Doch zwei Jahrzehnte nach Robinets Tod war Schluss mit dem klösterlichen Frieden. Die Revolution liess Köpfe rollen und ertränkte die alte Welt im Blut. Die Abtei ging unter, doch die Kirche von Pontigny blieb und darin diese kleine Tafel, elf Zeilen für ein Leben. Halt ein, Wanderer!

 

Eine Recherche im Internet bringt Zusätzliches an den Tag: 1839 veröffentlichte Vaast Barthélemy Henry die „Histoire de l’abbaye de Pontigny, ordre de Cîteaux“. In der Einleitung spricht er von Dom Robinet, der vom Abt Pierre de Calvairac 1720 den Auftrag erhalten habe, die Archive der Abtei in Ordnung zu bringen. Der Abt wollte die Beweismittel für offenbar bestrittene Besitzansprüche des Klosters zur Verfügung haben – eine Vorkehrung, die ab 1789 nicht mehr ihr Papier wert war. Von Nutzen war sie jedoch für den Historiker Henry: Er bezeichnet die von Robinet in zwölfjähriger Arbeit erstellten drei Oktavbände mit sämtlichen Klosterakten als Hauptquelle seiner historischen Darstellung.

 

Von Edmond Robinet heisst es auch, er stamme aus dem benachbarten Chablis und habe in Pontigny als Kellermeister gewirkt. Schwer vorstellbar, dass er nicht des Näheren mit dem berühmten Chardonnay aus seinem Heimatstädtchen zu tun gehabt hätte. Die Chardonnay-Traube, so informiert eine Klosterchronik, sei von den Zisterziensern in der Gegend eingeführt worden. Ordensleute von Pontigny seien es auch gewesen, die mit dem Weinbau im Gebiet von Chablis begonnen hätten. Seinen unverwechselbaren Charakter zieht der Chablis aus dem lokalen Kalkstein-Terroir. Es ist der Stein, aus dem die Abteikirche Pontigny gebaut und in den Robinets Epitaph gehauen ist.

 

Neben dem Weinbau vermelden die Annalen des Örtchens Chablis eine in der Provinz nicht unbedingt zu erwartende Besonderheit. Es gab hier bereits 1478 eine Druckerei. Der „Dictionnaire Bibliographique choisi du quinzième siècle“, der 1805 in Brüssel verlegt wurde, weiss:

On ne connaît qu’une ou deux impressions faites dans le XV.e siècle à Chablis, petite ville de France, plus connue par rapport à ses bons vins, qu’à l’égard de son imprimerie. Pierre le Rouge est le seul imprimeur de Chablis, nous avons de lui le ‚Livre des bonnes Meurs’, 1478

In jenem Jahr gab es in Frankreich ausser in Paris, Lyon und Toulouse höchstens eine Handvoll weitere Druckereien. Wie kam es, dass ausgerechnet in Chablis ein Pierre le Rouge sich in der Schwarzen Kunst betätigte? Hatte das nahe Kloster Pontigny damit zu tun?

 

Beim Stichwort Buchdruck ist es unmöglich, nicht erneut zu Proust zurückzukehren. Schon früh im langjährigen Entstehungsprozess seines Riesenwerks „A la recherche du temps perdu“ plagte er sich mit der Frage des Drucks herum. Am liebsten hätte er den Viertausend-Seiten-Roman an einem Stück, als durchlaufenden Text ohne jede innere Gliederung publiziert gesehen – eine Extremform, die er jedoch nie ernsthaft in Betracht zog. So galt es denn aufzuteilen, Titel für die Bände und Kapitel zu finden. Proust dachte dabei auch an die Vermarktung. Er wollte gelesen werden, prüfte Kooperationen mit verschiedenen Verlegern, gab schliesslich das Buch auf eigene Kosten heraus.

Grund dieses Entscheids war seine eherne Bedingung, unumschränkter Herr über den publizierten Text zu sein. Das hiess für ihn vor allem, dass er an den schon gesetzten Druckseiten immer wieder änderte, ganze Passagen strich und neu schrieb und die Druckfahnen, wenn kein Platz mehr war für Korrekturen, mit Zetteln beklebte, auf denen er letzte Einfügungen machte.

 

Viele Deuter der „Recherche“ haben sich gefragt, ob Proust das Werk, an dem er auf dem Krankenlager praktisch bis zum Tod arbeitete, hat vollenden können. Oder liegt uns nicht vielmehr das zu einem zufälligen Zeitpunkt abgebrochene Work-in-Progress vor? – Dass diese Frage offen bleiben muss, gehört zu diesem Schlüsselroman. Wir haben ihn nicht anders als mit dieser grundlegenden Unsicherheit.

 

Das Kaleidoskop der Fragmente dreht sich weiter. Es kommen stets neue Teile hinzu und bilden einen nicht endenden und sich nicht wiederholenden Reigen von Mustern.

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