· 

Der unleserliche Brief

An Constantin de Brancovan

Paris, Samstagabend, 19. August 1899

 

Mon cher Prince,

soeben habe ich diesen bezaubernden und unleserlichen Brief erhalten. Sie wissen, dass das, was Sie schreiben, die Mühe lohnt, gelesen zu werden, und Ihnen liegt daran, dass man sich diese Mühe macht. Sie sind der Mallarmé der Schrift. Im Grunde handelt es sich dabei um eine zusätzliche Nettigkeit, denn so sorgen Sie dafür, dass ich mehr Zeit mit Ihrem Brief verbringe, als wenn er leicht zu lesen wäre. Da ein Brief wie ein Besuch ist, ist ein schwer entzifferbarer Brief wie ein langer Besuch. Die Ihren sagen: Ich kommen nicht nur auf einen Augenblick, ich bleibe den ganzen Tag. Ich habe ihn damit verbracht, Ihren Brief zu lesen, und er ist mir teuer geworden aufgrund der Mühe, die er mir gemacht hat. Aber dessen bedurfte es gar nicht, um ihn zu lieben, und das hätte ich Ihnen gleich sagen sollen, statt dieser albernen Witzeleien. Ihr Brief ist erlesen, und ich danke Ihnen dafür von ganzem Herzen. Ich werde ihn sorgfältigst aufbewahren; nicht, weil er ein Muster der Hieroglyphik zu sein scheint, sondern weil er ein Beweis Ihrer Freundschaft ist. (…)

 

Ihr ergebener

Marcel Proust

 

Aus: Marcel Proust, Briefe, Bd. I: 1879–1913, hg. v. Jürgen Ritte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016

Kommentar schreiben

Kommentare: 0