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Martin Peiers Predigttheorie

Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Fussballmatch und einer Predigt? – Bei der Predigt weiss man immer schon vorher, wer gewinnt.

 

Zugegeben, das ist ein bisschen daneben – aber eben nur ein bisschen! Martin sieht die Predigt nicht als Match, sondern, wie er gründlich darlegt, als Prozess. Ich glaube Martin aber schon zu verstehen, wenn ich annehme, seine Vorstellung von Prozess und von Predigt sei dem Geschehen auf dem Spielfeld nicht völlig unähnlich.

 

Spannend an dem Vergleich ist nicht so sehr, dass es bei beiden, Match und Predigt, ein Schlussresultat gibt. Viel bedeutungsvoller ist, dass Predigten genau wie Fussballspiele langweilig oder packend sein können – und dass man nicht vorher weiss, welches der Fall sein wird.

Martin stellt gleich zu Beginn die These in den Raum: Eine Predigt kann misslingen.

 

Wer wollte da widersprechen! Wir haben es oft genug auf harten Kirchenbänken erlebt. Doch Martins These geht weit über die triviale Erkenntnis hinaus, dass theologisches Personal auch nur mit Wasser kocht. Sie meint wirklich ein Risiko, das genuin in der Redeform Predigt steckt. Es ist wie beim Fussball: Mit höchsten Erwartungen angepfiffene Spiele können als ereignisloses Null zu Null enden – oder die Fans zu Begeisterungsstürmen hinreissen.

 

Ohne dieses Risiko wäre Fussball nicht unterhaltend und Predigt nicht – gestatten Sie das altertümliche Wort – erbauend.

Eine solche Auffassung kollidiert empfindlich mit der gängigen Meinung, lahme Predigten seien bloss kirchliche Betriebsunfälle. Eigentlich funktioniere nämlich das Predigen. Es erfülle grundsätzlich den hohen Anspruch, einer Gemeinde Gottes Wort zu überbringen. Kommt die Botschaft nicht an, so diese Doktrin, hat der Prediger eben den Job nicht richtig gemacht.

 

Das ist dann nicht ein Scheitern der Institution Predigt, sondern ein Versagen des Predigers – was natürlich theologisch angenehmer ist, weil es weniger weitreichende Fragen aufwirft.

 

Martin hingegen hat eine Vorliebe für die weitreichenden Fragen. Er will denn auch nicht in erster Linie die Fehler der Predigenden korrigieren, sondern den Prozess der Predigt verstehen.

 

Die Art, wie Martin diesen Prozess beschreibt, ist von aktuellen Kommunikations- und Kulturtheorien inspiriert. Die Predigt im Gottesdienst ist demnach nicht einfach das von der Pfarrerin Ausgedachte und Vorgetragene sondern das Ensemble des Gesagten und von den Anwesenden unterschiedlich Gehörten.

 

Noch deutlicher wird Martin mit dem Satz: „Die Predigt gehört den Hörenden.“ Oder anders: Die Deutungshoheit für das in der Predigt Gesagte kommt allein den Hörenden zu.

 

Im Hauptteil des Buches, einer sorgfältigen Analyse des so verstandenen Prozesses der Predigt, untersucht Martin das Zusammenspiel von Erzählen und Hören, Vorprägungen und Denkimpulsen, Erwartungen und Lernvorgängen, Enttäuschungen und Überraschungen. Es geht ihm darum herauszufinden, wie der komplexe Prozess stimuliert und gestützt werden kann.

 

Also doch ein Rezept für gelingende Predigten? Lässt man sich auf Martins Ansatz ein, ist es offensichtlich: Es sind immer die einzelnen Hörenden, die das Gelingen beurteilen. Es gibt im Predigtprozess keine höhere Instanz. Die Konsequenz ist nicht nur, dass eine Predigt scheitern kann, sondern vielmehr, dass bei jeder gehaltenen Predigt mit einem gewissen Mass des Scheiterns zu rechnen ist. Denn es hören niemals alle gleich.

 

Was macht man da? Vielleicht hilft ein bewährter Trick: Man sortiert diese widerspenstig-individualistischen Hörenden in einer Weise, dass möglichst homogene Gruppen entstehen, deren Präferenzen, Interessen, Sprachstile und Verstehenshorizonte man in etwa kennt. Klassisches Zielgruppen-Marketing eben.

 

Mit einer Segmentierung der Hörer hat auch Martin den Ausweg in genau dieser Richtung gesucht. Er nennt das hinterher den „Irrtum einer Typologie“. Dieser Umweg, den er in seinem Buch offengelegt hat, fasziniert mich. Denn oft erweisen sich ja die Umwege im Nachhinein als besonders erhellend. Zudem sind die von Martin entworfenen Hörertypen durchaus interessant. Ich zähle sie kurz auf (die Charakterisierung der einzelnen Typen ist im Buch nachzulesen). Die fünf Hörertypen suchen in der Predigt

  1. die theologische Rede
  2. das seelsorgerliche Gespräch
  3. den Denkanstoss
  4. die Erbauung
  5. das Zeugnis gelebten Glaubens.

Diese Typologie erinnert mich an Theodor Adornos Typen des Musikhörens. Adorno nennt

  1. den Experten
  2. den guten Zuhörer
  3. den Bildungskonsumenten
  4. den emotionalen Hörer
  5. den Ressentiment-Hörer
  6. den Unterhaltungs-Hörer
  7. den Gleichgültigen, Unmusikalischen, Antimusikalischen.

Solche Typologien – diejenige Adornos wie die Martins – sind für manches geeignet, aber eben nicht dazu, die Individualität des Hörprozesses zu begreifen.

 

Martin ist bei seinem Nein zur Segmentierung konsequent. Wenn Hörer als Individuen die Deutungshoheit über die Predigt haben, dann müssen sie in der Theorie als Individuen figurieren und nicht als anonyme Teile eines Typus.

 

Martins Ansatz, Predigt als vielschichtigen, offenen, nicht vorweg steuerbaren Prozess zu verstehen, ist aus einer kommunikationstheoretischen Sicht wenig überraschend. Theologisch gesehen hingegen ist seine Predigttheorie kühn. Theologen sind nämlich an ein Top-Down-Denken gewöhnt, gerade auch in der Predigtlehre. Wenn aber die Predigt ein Prozess ist und den Hörenden gehört, funktioniert das so nicht mehr. Da gibt’s was zu lernen!

 

Was Martin zu bieten hat, ist in Ansätzen eine neuartige Predigttheorie. Ich sage absichtlich Theorie und nicht Lehre, denn Theorie entsteht immer aus Reflexion über die Praxis. Das Bändchen „gehört“ ist deshalb ein Arbeitsbuch, eine Toolbox. Sie hilft Predigenden, sicherer und besser zu werden.

 

Zugleich aber ist das neue Buch ein Impuls im Grundsätzlichen, der das Zeug hat, in Theologie und Kirche ein neues Nachdenken über das Predigen in Gang zu setzen.

 

Ansprache bei der Buchpräsentation von „gehört“ am 20. September 2018, bei Reformierte Medien, Zürich

Martin Peier: gehört – Wirkungen der Rede am Beispiel der Predigt

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