· 

Die Welt in Marmor gehauen

Giovanni Pisano hiess der geniale Bildhauer, von dem die Kanzel im Dom zu Pisa stammt. Er lebte von 1248 bis 1315 und ist der Sohn und Schüler des ebenso bedeutenden Niccolò Pisano. Die Kanzel in Pisa ist ein Alterswerk; sie entstand zwischen 1302 und 1311 und zeigt eindrücklich die in seinen Figuren immer deutlicher hervortretende Individualisierung und Dynamisierung. Wir befinden uns definitiv im Übergang vom Hochmittelalter zur Frührenaissance. Bei diesem Durchbruch spielt Giovanni Pisano in der Skulptur eine ähnliche Rolle wie Giotto in der Malerei.

 

Der künstlerische Rang der Pisaner Domkanzel kann kaum hoch genug eingestuft werden. Zum Glück sind die vielen Touristen mit Selfie-Posen vor dem Schiefen Turm dermassen beschäftigt, dass man Pisanos Kanzel ziemlich ungestört bewundern kann. Doch wird man dem Werk des Meisters kaum gerecht, wenn man es ausschliesslich als künstlerische Spitzenleistung betrachtet. Es ist sogar anzunehmen, dass Giovanni Pisano eine derartige Würdigung ziemlich unverständlich wäre. Die dem heutigen Betrachter so exeptionell erscheinende Kunstfertigkeit war damals die Basis, das hart errungene und rastlos vervollkommnete Handwerk des Meisters. Entscheidend aber war für ihn, was er damit auszudrücken vermochte.

 

Nähert man sich dieser inhaltlichen Ebene von Pisanos Werk, so tut sich eine ganze Welt auf, die Welt seiner Zeit, des späten Mittelalters. Der Künstler hat alles, was den Sinn-Kosmos seiner Zeit ausmachte, in eine kompakte, schlüssige und vollkommen harmonische Form gebracht. Und dies ist nach seinem eigenen Verständnis seine eigentliche künstlerische Leistung.

 

Die Entschlüsselung der skulpturalen Codes dieser Kanzel würde einen stattlichen Band füllen. Hier nur einige grobe Hinweise. Die Brüstung der sechseckigen Kanzel wird von rechteckigen Reliefs gebildet, die in figurenreichen Szenen die neutestamentliche Heilsgeschichte von der Verkündung der Geburt Jesu an Maria zur Kreuzigung und weiter zum endzeitlichen Jüngsten Gericht führt. Die insgesamt elf Säulen, welche die vier Meter hohe Kanzel tragen, visualisieren den gesamten mittelalterlichen Wissenskanon. Die Basis der zentralen Säule zeigt Personifizierungen der Septem Artes Liberales. Diese sieben freien Künste sind nichts anderes als die Basis aller akademischen Bildung. Gegliedert ins sprachlich-logisch-philosophische Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und ins mathematische Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) umfassten die Septem Artes Liberales alle Bausteine und Dimensionen des Wissens.

 

Auf dieser Grundlage erfolgte an der mittelalterlichen Universität der Zugang zu Fachstudien in Theologie, Jurisprudenz oder Medizin. Hier, wo es um die christliche Verkündigung geht, stehen auf der gleichen Basis, als tragende Mittelsäule der Kanzel ausgebildet, die drei theologischen Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung. In Pisanos ikonographischem Weltprogramm ruhen also die elementaren Triebkräfte des Christentums auf den Grundlagen sprachlich-logischen und mathematisch-logischen menschlichen Vermögens.

 

Die äusseren Säulen zeigen neben den vier Evangelisten und den Kardinaltugenden, dem Erzengel Michael und der Ecclesia-Figur interessanterweise auch den antiken Helden und Halbgott Herkules. Diesen selbstverständlichen Einbezug der Antike spiegelt auch das gleichwertige Nebeneinander der biblischen Propheten und der Sibyllen, also der Wahrsagerinnen aus der griechischen Mythologie.

 

Das Bildprogramm von Pisanos Kanzel steht für ein universales Christentum, welches das Weltwissen seiner Zeit ebenso integriert wie die für die Hochscholastik massgebliche kultur- und geistesgeschichtliche Referenz, die Antike. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0