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Bleiben Sie freundlich!

Weil das Leben zu hart ist, um deppert zueinander zu sein. (Ann Cotten in «Lyophilia»)

 

Ein Newsletter, den ich jeden Morgen empfange, endet oft mit diesem guten Wunsch für den Tag: Bleiben Sie freundlich! – Eine kleine Frechheit? Die sarkastische Devise eines Unfreundlichkeits-Geschädigten? Oder vielleicht doch eine lebensfreundliche Weisheit?

 

Umgangsformen zählen zu den Sekundärtugenden. Diese wurden in der Achtundsechziger-Bewegung – zu Recht – problematisiert und darauf in einer breiten Wahrnehmung – zu Unrecht – lächerlich gemacht. Oskar Lafontaine bewegte sich auf dem schmalen Grat zwischen beidem, als er in der seinerzeitigen erregten Debatte um den Nato-Doppelbeschluss (Drohung mit westlicher Raketen-Aufrüstung in Europa, um den Abzug der bereits installierten sowjetischen SS-20 zu erzwingen) sagte: «Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. (…) Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.» (Stern-Interview, 15.7.1982)

 

Lafontaine überspannte hier den Bogen der linken Kritik an bürgerlichen Tugenden. Er sah in Bundeskanzler Schmidt gewissermassen deren Herold und unterstellte ihm, sein Ethos erschöpfe sich im Sekundären, während er das Primäre – die Erhaltung des Friedens – aus den Augen verloren habe. Die historische Entwicklung gab Schmidt Recht: Das Kalkül des Nato-Doppelbeschlusses ging auf, die Sowjets bauten ihre atomaren Mittelstreckenraketen in Osteuropa ab – was, wie man wohl sagen kann, dem Frieden diente.

 

Bleiben wir bei der Sekundärtugend der Freundlichkeit. Wenn sie heute oft an den Rand gedrängt erscheint, so liegen die Gründe kaum in antiautoritären Reflexen oder in einer Kritik an der Überbewertung des Sekundären. Vielmehr könnten Beschleunigung und Verdichtung des urbanen Lebens Gründe für einen Hang zur Unfreundlichkeit sein. Hinzu kommt wohl eine Art Enthemmungstraining in der Anonymität und Abstraktheit Sozialer Medien. Auch ein verinnerlichtes Konkurrenzprinzip dürfte bei Einzelnen dazu beitragen, dass sie andere Menschen von vornherein als Gegner sehen und ihnen entsprechend offensiv oder aggressiv begegnen.

 

Dabei wissen alle aus eigener Erfahrung, wie wohltuend Freundlichkeit sein kann. Selbst wo sie zum Geschäft gehört und gar nichts Persönliches meint, ist sie ausgesprochen angenehm. Die Negativbilder der griesgrämigen Beamtin oder des übelgelaunten Kellners verdeutlichen den Wert einer routiniert-professionellen Freundlichkeit, auch wenn diese letztlich ganz eigennützig sein sollte. Angenehme Umgangsformen sind für die menschliche Qualität einer Dienstleistungsgesellschaft von unschätzbarem Wert.

 

Für Freundlichkeit im professionellen Bereich sorgt in der Tat ein Stück weit das Eigeninteresse der Dienstleister. Doch wie bei so vielem kann man sich auch hier nicht allein auf den Markt verlassen, der  – wie es oft heisst – es dann schon richtet. Es braucht zusätzlich ein gesellschaftliches Klima des Entgegenkommens, eine allgemein geteilte Übereinkunft zum Wert der Freundlichkeit.

 

Die Sekundärtugend, freundlich zueinander zu sein, besteht darin, anderen als freiwillige Vorleistung ein Wohlwollen entgegenzubringen, Bereitschaft zur Rücksichtnahme zu zeigen, Offenheit zu signalisieren. Freundlichkeit verbessert den Alltag für alle. – Doch ist das nicht ein reichlich oberflächlicher Umgang miteinander?

 

Freundlichkeit darf, ja sie muss in den meisten Fällen oberflächlich bleiben. Alltagskontakte schaffen keine Nähe. Sie sind auf Distanz angelegt, und diese bleibt fast immer gewahrt. Wer den Wert der Freundlichkeit deswegen anzweifelt, verkennt den Unterschied zwischen Kontakt und Beziehung. Distanz muss im Alltag die Regel sein; und Freundlichkeit ist nichts anderes, als auf zivile Art Distanz zu wahren.

 

Das «Bleiben Sie freundlich!» ist als Devise ganz auf der Höhe der Zeit. Es ist gut, einander ab und zu an die Notwendigkeit dieser Sekundärtugend zu erinnern. Sie zu befolgen, verlangt tägliches Training, kontinuierliche Selbsterziehung. Die vielen kleinen Wohltaten, die man selbst im Alltag erfährt, sind der wirkungsvollste Ansporn hiefür.

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