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Am Ende des Christentums

Stephan Landis auf Dienstreisen durch die Bibel

 

«Entdeckungsreisen» hätte auch gepasst, aber in unguter Weise nach Theologenjargon geklungen. Die dreizehn Texte sind zwar Predigten, aber ganz und gar ungewöhnliche. Der Verfasser hat sie in Zürich in der Kirche Fluntern gehalten, wo er als Pfarrer Dienst tat. Nun kann man sie lesen. Das kleine Bändchen kann man getrost eine theologische Sensation nennen.

Nun ist das Wort Sensation womöglich noch abgedroschener als die Metapher der Entdeckungsreise. Als boulevardeske Qualifikation verträgt es in sich keiner Weise mit Stephan Landis, den man dem Typus des stillen Gelehrten zuordnen würde. Trotzdem: Diese Predigten haben das Zeug, kirchliche Denkmuster und theologische Lehren wegzufegen und Zugänge zur Bibel zu bahnen, die noch nicht begangen wurden. 

 

Die nicht chronologisch, sondern thematisch geordneten Stücke fügen sich zu einer dramaturgisch schlüssigen Exploration einer neuen Landschaft des religiösen Glaubens. Stephan Landis liest die Bibel im Wissen darum, dass das Christentum als gesellschaftlich prägende Religion an seinem Ende anlangt. Unaufgeregt rechnet er mit tiefen Einschnitten und noch nicht absehbaren Umbrüchen in der hiesigen Gestalt des Protestantismus. Doch er verachtet die Institution Kirche nicht. Sie soll das offene, freie Gespräch über die Bibel und den Glauben in Gang halten, in welcher sozialen Form auch immer. Was solche Denkarbeit an Sprengkraft freisetzt, das geht dann allerdings an die Fundamente der Institution, und zwar sowohl des Lehrgebäudes wie der Organisationsform institutionalisierter Religion. 

 

Die erste Predigt des Bändchens setzt 1649 in London ein: König Charles I. wird auf das Schafott geführt, 150 Jahre vor der französischen Revolution. Doch anders als in Paris jubeln die Zuschauer nicht, sondern es geht ein Stöhnen durch die Menschenmenge. Die Leute spüren, dass mit der Hinrichtung des Monarchen die Trias König–Vater–Gott und damit die Garantie einer stabilen Welt stirbt. Shakespeare hat diesen Schock 43 Jahre vor der Hinrichtung des Königs auf die Bühne gebracht in seinem Drama «King Lear», das eine einzige Meditation ist über das Wort «nichts». 

 

Mit diesem Einstieg sind gleich drei Charakteristika von Landis’ Predigten markiert. Es ist zum einen seine Anglophilie, die Verbundenheit und Vertrautheit mit englischer Literatur, Philosophie und Kultur. Eng damit gekoppelt ist zweitens der literarische Approach, der die Bibel in der Welt der Narration und Poesie verortet und deshalb die biblischen Motive und Texte aus der Erfahrung mit literarischen Werken heraus erschliesst. Die dritte Vorliebe ist jene für das Theater; sie kommt in mehreren der Predigten zum Zug.

 

Die King-Lear-Predigt bleibt konsequent bei Shakespeare. Wohl endet diese dunkelste aller Tragödien beim Nichts. Stephan Landis deutet dieses Ende als den Tod einer Ordnung und einer Religion des Oben und Unten. Und er fährt fort: «Doch King Lear ist nicht Shakespeares letztes Wort, wie der Karfreitag nicht das letzte Wort der Bibel ist.» Zum Schluss wagt der Prediger eine weitere Shakespeare-Referenz, nämlich die zu «Antonius und Cleopatra», wo eine Vertraute zur sterbenden Königin sagt: «Deine Krone sitzt schief; ich rücke sie zurecht, und dann werde ich spielen.» – Das Motiv der Auferstehung in poetischer Gestalt.

 

Das Theater sieht der Autor als Labor von Lebensentwürfen und Verhaltensmustern. Als modellhaft sieht er dessen Praxis zu Shakespeares Zeiten, da die Stücke ohne Regisseur und mit viel Improvisation aufgeführt wurden. Von daher stellt er die feste Institution in Frage, wie sie die Kirchen mit ihren Riten, Traditionen, Dogmen und Hierarchien errichtet haben. «Muss das so sein?», fragt er, und man ist geneigt, der Suggestion zu folgen: Nein, das muss es wohl nicht.

In der alttestamentlichen Geschichte von Paradies und Vertreibung sieht Stephan Landis die geballte Ladung lastender Dogmen und darin die Tragödie der Kirchen. Er möchte die Erzählung anders lesen, nämlich als intime Geschichte eines Vaters und seiner zwei Kinder, in der Gott Fehler macht und lernen muss – eine kleine Komödie, die viel lebensnäher ist als die einschüchternde und frauenfeindliche Erbsünden-Story.

 

Die Paradiesgeschichte hat schon manchen Kritikern die Steilvorlage geliefert, um gängige theologische Deutungen mit Getöse zu demolieren. Stephan Landis stattdessen: «Manchmal denke ich, dass der Vater in dieser Geschichte überreagiert.» Er selbst ist keiner, der überreagiert. Er beobachtet, lässt die Gedanken wandern, schaut woanders her auf die alten Texte und findet einen eleganten, spielerischen Dreh, der sie in neuem Licht zeigt.

 

Immer wieder kommen die Inspirationen zu neuer Lektüre aus der angelsächsischen Literatur. Neben dem Giganten Shakespeare treten die Klasssiker Ralph Waldo Emerson, Emily Dickinson, Henry James, George Herbert, William Blake, aber auch der zeitgenössische Richard Maybey in Erscheinung. Von der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson leiht Stephan Landis sich die Verszeile «I dwell in possibility» (Ich wohne in der Möglichkeit), um eine wunderbare Fassung des Phänomens Glauben zu skizzieren. Die Kirchen, so Landis, hätten sich stets auf den Glauben an Jesus kapriziert – und dabei vergessen, dass die Evangelien zuerst über den Glauben von Jesus selbst berichten. Und der, so Landis weiter, sei sehr schön umschrieben mit Emily Dickinsons poetischer Formel, die in ihm die Sehnsucht geweckt habe, auch in dieser Wohnung zu leben. – Was für ein Unterschied zu den oft herrischen Lehren, die den Glauben an Jesus einfordern!

 

Mit welcher Courage zum Selberdenken Stephan Landis sich der in Stein gemeisselten christlichen Lehren annimmt, zeigt seine Kritik an der Trias der theologischen Tugenden – Glaube, Hoffnung, Liebe –, die auf das klare Votum für die Freiheit als den zentralen Wert des Christentums hinausläuft. Im Einklang mit dem Hymnus des Paulus auf die Liebe (1. Korinther 13) gilt in der christlichen Tradition die Liebe als das Zentralgestirn der Werte. Stephan Landis moniert, Liebe vermenge sich allzu oft mit Druck und Zwang, und deshalb solle sie die Freiheit lernen.

 

Doch Hierarchien sind eigentlich seine Sache nicht. Freiheit ist ja sperrig gegen Rangordnungen. Im Gefolge George Herberts, dessen Verse ihn glücklich machen, plädiert Stephan Landis für ein poetisches Bibelverständnis: «Es kann sehr befreiend sein, sich in einem Bibeltext zunächst einmal ganz auf die Bilder zu verlassen, ohne sofort danach zu fragen, was der Verfasser sagen will, welche gedanklichen Probleme er abhandelt.» Sprachbilder heissen auch Metaphern, was griechisch ist und «anderswohin tragen» bedeutet. Dieses «anderswohin» ist der Titel des Buchs und weist auf die Programmatik einer poetischen Bibeldeutung hin.

 

Kein Wunder, bringt Stephan Landis für das reformatorische «sola scriptura», das theologische Leitkriterium der allein entscheidenden biblischen Grundlage (allein die Schrift), wenig Begeisterung auf. Es macht aus der Bibel eine Argumenten-Toolbox und treibt ihr alle Poesie aus. Man kann das Entsetzen vieler Theologinnen und Kirchenmänner vermuten, wenn Stephan Landis gar Sympathie äussert für eine «Religion light», die für ihn nicht im Ruch moderner Beliebigkeit steht, sondern eine lichte, heitere Religion meint. Seine Parteinahme für diesen in den Augen vieler gewiss frevelhaften Begriff begründet Landis auch mit der Tendenz der Kirche, sich gegen die rebellischen Seiten der Bibel zu immunisieren: «Vergessen wir nicht: Jesus war ein scharfer Kritiker des Tempelkults, ein Gegner der institutionalisierten Religion.» Der Begriff «Religion light» signalisiere aber auch, dass eine Religion gemeint sei, die uns freier atmen lässt und die fähig ist, sich mit den Menschen zu wandeln. Nochmals Landis: «Eine menschenfeindliche Religion müssen wir uns nicht antun. Dann lieber gar keine.»

 

Mit seinem Predigtbändchen gibt Stephan Landis einer liberalen, kultursensiblen und wahrhaft zeitgenössischen Theologie starke Impulse. Seine bescheiden-unprätentiöse Diktion darf nicht darüber täuschen, dass wir es hier mit einem grossen Wurf zu tun haben. Das ist eine neue religiöse Sprache. Sie führt heraus aus dem Gehäuse, das längst bröckelt und bald einstürzen könnte.

 

Stephan Landis: Anderswohin. 13 Dienstreisen durch die Bibel, TVZ Theologischer Verlag Zürich, 2019, 104 S.

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