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Wohlklang in trostloser Zeit

Was Schönberg gegen Brahms vorzubringen hat

 

Vier Tage lang fast rund um die Uhr bespielte Armin Brunner im September 1993 die Alte Oper und weitere Schauplätze in Frankfurt mit dem zweiten «Sonoptikum», einem musikalischen Parforce-Ritt mit 1'500 Mitwirkenden. Zu einer der Aufführungen steuerte ich einen Essay bei über Musik und Religion im Umbruch zwischen der bürgerlichen Spätromantik und der unübersichtlichen Gegenwart.

 

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Die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts, die Zeit Johannes Brahms’, war eine Epoche des grenzenlosen Fortschrittsoptimismus. Naturwissenschaftliche und technische Errungenschaften diktierten das hektische Tempo des Lebens. Als 1868 das Deutsche Requiem uraufgeführt wurde, gab es schon die Rohrpost, die Schreibmaschine und den elektrischen Dynamo, die Genfer Konvention, den Klu-Klux-Klan und die Frauenbewegung, den Kampf um das Blaue Band auf dem Nordatlantik, die von Karl Marx gegründete Erste Internationale und den Streit um Darwins Abstammungslehre. Aus Grossstädten wurden Metropolen, und die Einheit des Weltbildes, die frühere Gesellschaften trotz allen inneren Gegensätzen noch zusammengehalten hatte, war endgültig am Auseinanderbrechen. Nach verbreiteter Auffassung hatte man die Stufenfolge des religiösen und des metaphysischen Zeitalters hinter sich gelassen und war in der dritten und obersten Stufe angelangt, in der wissenschaftlichen Epoche. Die Lösung aller Welträtsel schien nur noch eine Frage der Zeit, da man über die unfehlbaren Methoden zu verfügen glaubte. 

 

Eine militant antireligiöse und antiklerikale Stimmung herrschte mit unterschiedlichen Schattierungen in vielen Lagern. Trotzdem war eine nostalgische Bindung an Religion verbreitet. Eine von den historischen Kirchen abgelöste «Menschheitsreligion» des Glaubens an ein höchstes Wesen, an ein Jenseits und an die Unsterblichkeit der Seele bildete den vagen zivilreligiösen Konsens einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft. Die zur Privatsache gewordene Religion war notwendig zur Festigung moralischer Konventionen und zur Tröstung angesichts des Leidens unter unbegreiflichen Schicksalen und angesichts der Furcht vor dem Tod. 

 

Um solcher Notwendigkeiten willen tolerierte das wissenschaftliche Jahrhundert den Rückgriff in die metaphysische Ära. Festigung und Trost waren nun einmal nicht anders zu gewährleisten als mit absoluten Aussagen, und diese beruhten notwendigerweise auf einer Transzendierung der Empirie. Im gesellschaftlichen Leben herrschte ein fauler Frieden zwischen vagen Transzendenzpostulaten und exakter Wissenschaft, zwischen idealistischer Religiosität und technisch-merkantiler Weltbemächtigung. Religion war demnach ebenso notwendig wie unzeitgemäss, ein offener Widerspruch im Lebensgefühl der Menschen. Den Ausweg in den reflektierten Agnostizismus oder Atheismus wählten wenige, denn er bedeutete den Verzicht auf letzten Halt und oft auch auf gesellschaftliche Reputation. Die meisten verdrängten das Ungereimte oder halfen sich mit der rigorosen Trennung: hier die säkulare Welt, dort die Moral und das Erhabene.

 

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Johannes Brahms war 35 Jahre alt, als er mit dem Deutschen Requiem den Durchbruch zur Anerkennung schaffte. Den ersten Anstoss zum Requiem soll zwölf Jahre zuvor Robert Schumanns Tod gegeben haben. Schumann, ohne den Brahms’ Werdegang nicht denkbar ist, hatte einen neuen Künstlertyp verkörpert, nämlich den ästhetisch-literarisch reflektierenden Künder eines «romantischen Fortschritts». Brahms gilt als der Klassizist unter den Spätromantikern und wurde von den Jüngeren, etwa von Hugo Wolf, nicht selten als Konservativer diffamiert. Erst einem Meister der übernächsten Komponistengeneration war es möglich, ihn ganz anders zu sehen: Arnold Schönberg bezeichnete Brahms hundert Jahre nach dessen Geburt als einen Progressiven und bekannte, seine eigene Musik wäre ohne Brahms nicht möglich.

 

Ein Weltbild, dessen Voraussetzungen verändert werden müssen oder auch nur verändert werden können, verliert seine entscheidende Eigenschaft, nämlich Vorstellungsrahmen zu sein für die Suche nach neuen Erkenntnissen und Gestaltungsmöglichkeiten. Das musikalische Weltbild der spätromantischen Tonalität war in diese Krise geraten. Einzelne kompositorische Grenzüberschreitungen hatten den Bruch vorbereitet, der sich zwischen 1890 und 1920 vollzog. Die Tonbeziehungen erscheinen, abgelöst von den Gesetzmässigkeiten der harmonischen Kadenzen, als frei formbares Material. Doch weil Kunst ohne Ordnungsprinzipien nicht auskommt, mussten neue Beziehungssysteme gefunden werden. Arnold Schönbergs «Methode der Komposition mit zwölf Tönen, die nur untereinander in Beziehung stehen» ist eine frei gewählte Regel, ein Spezialfall der allgemeineren Reihenkomposition. Sie betont ebenso die Gleichwertigkeit der Intervalle wie die Strenge der Form. Die «Emanzipation der Dissonanz» ist für Schönberg kein willkürlicher Akt der Modernen, sondern ein von der Spätromantik angebahnter irreversibler Vorgang, der dann allerdings erst in der Neuen Musik reflektiert und systematisiert wird.

 

Auch wenn der mit Schönberg identifizierte «Epochenbruch» zur Moderne bis heute als härter und schwieriger empfunden wird als etwa der in der bildenden Kunst oder in der Literatur, gibt es doch mannigfaltige Traditionslinien, die sich der oberflächlichen Betrachtung freilich nicht sogleich offenbaren. Die von Schönberg besonders herausgestellten «progressiven» Momente bei Brahms liegen in der von ihm so bezeichneten «entwickelnden Variation», einem Verfahren, das, anscheinend in sich kreisend, immer neue Varianten eines einmal eingeführten Themas oder Motivs hervorbringt. In der «stufenreichen Harmonik» konnte Schönberg überdies eine Tendenz zur freien Polyphonie und darin ein Stück Vorgeschichte der Neuen Musik erkennen.

Wenn also Schönberg Brahms einen Progressiven nennt, dann im «lautlosen, aber unüberhörbaren Protest gegen ein Publikum (…), das Brahms verehrte und dennoch ihn, Schönberg, im Stich liess, ohne zu begreifen oder begreifen zu wollen, dass die Konsequenzen, die er aus der Brahmsschen Kammermusik zog, durchaus ästhetisch und kompositionstechnisch legitim waren, so bestürzend sie zunächst wirken mochten». (Dahlhaus)

 

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Im Frankfurter Sonoptikum 1993 schob Armin Brunner zwischen den vierten und fünften Satz des Deutschen Requiems Schönbergs Oratorium Ein Überlebender aus Warschau von 1948. Für die am Gewohnten orientierte Rezeption des Brahms-Werks war dies zunächst eine Störung. Die schroffe Atonalität bricht ein in einen musikalischen Kosmos des ergreifenden Wohlklangs, die Erinnerung an den Holocaust kommt der ruhigen Religiosität in die Quere. Das Requiem kann nicht Weihestunde sein, wenn es diesen Fremdkörper dulden muss, und zur ästhetischen Erbauung fehlt mit einem Mal das Gefühl, in eine höhere Harmonie einbezogen zu sein. Der Einschub des Schönberg-Stücks reproduziert auf der Ebene der Aufführung die moderne Verlegenheit angesichts der Aussagen des Brahmsschen Requiems, dieses Inbegriffs tröstender Musik. Die von Brahms kompilierten biblischen Verse sagen, dass man im Leben gut sein müsse und im Sterben keine Angst zu haben brauche, weil das Jenseits eine Tatsache sei. 

 

Brahms’ Musik ordnet sich in ein Kunstverständnis ein, das sich von der geschichtlichen Realität abwendet und sich mit einem Ideal des Schönen und Wahren befasst. Kunst und Religion rücken in ihrer kompensatorischen Funktion eng zusammen. Dazu der Historiker Erik J. Hobsbawm: «Die Kunst des späten 19. Jahrhunderts lässt sich gar nicht begreifen ohne eine Ahnung von dieser Forderung der Gesellschaft, die darauf hinausging, sie als die allzeit verfügbare Lieferantin geistiger Gehalte für eine höchst materialistische Zivilisation in Anspruch zu nehmen. Ja, man könnte fast sagen, dass die Kunst im Bewusstseinshaushalt der Gebildeten und Emanzipierten, d. h. der erfolgreichen Mittelklassen, die Funktion übernahm, die zuvor der überlieferten Religion zugefallen war (…).»

 

Die Anordnung Armin Brunners liess ein distanzloses Hören nicht zu. Von dem Augenblick des Einbrechens des Schönbergschen Stücks in das Requiem an war der zuvor abgedunkelte Saal hell erleuchtet, und er blieb es während der folgenden Requiem-Sätze fünf bis sieben. Schönberg störte den Trost der einfachen Metaphysik auf zweifache Weise. Das erste störende Moment war inhaltlicher Art. Schönbergs Musik bezieht sich auf das konkrete historische Geschehen des millionenfachen Mordes im Nationalsozialismus. Der jüdische Glaube, zu dem Schönberg sich in diesem Werk bekennt, ist keine überweltliche, keine ahistorische und keine metaphysische Theorie, sondern eine Orientierung auf Gott in der Geschichte. Höhepunkt des Ein Überlebender aus Warschau ist das Bekenntnis der Verzweifelten, das machtvolle «Schema Jisrael». Es ist allerdings eine arme Macht, die sich in diesem Glauben äussert. Sie hält das Böse nicht auf und kann ihm nicht ausweichen. Der Glaube widersteht in Schönbergs musikalischer Geschichte allein durch das Bekenntnis, in welchen die Gequälten, die nichts tun können, ihre Identität und Würde wenigstens für Augenblicke festhalten. Von Trost und Hoffnung kann an diesem untersten Punkt der Welt nicht mehr die Rede sein. 

 

Die zweite Störung war die Irritation durch die Konfrontation zweier gegensätzlicher Klangerlebnisse. Das Konzertpublikum ist es zwar gewohnt, nacheinander ganz unterschiedliche Werke zu hören und lässt sich durch intelligente Programmgestaltung zum Vergleichen und zur Suche nach Zusammenhängen anregen. Armin Brunner ging aber mit der Brahms-Schönberg-Kombination entschieden weiter. Er führte das Requiem und den Überlebenden auf, als wären sie ein Werk. (Diese Art der Montage folgt dem Beispiel Michael Gielens, der Schönbergs Überlebenden aus Warschau zwischen dem 3. und 4. Satz der 9. Sinfonie von Beethoven einfügte.) Gemäss dem ästhetischen Prinzip der Collage wurden hier Stücke zusammengefügt, die in ihrer Eigenheit zwar unangetastet bleiben, aber durch ihre Kombination doch völlig neue Qualitäten bekommen. Beim Hören war jedoch zunächst die Kontrasterfahrung überwältigend: hier die schwebende Musik, die den Körper des Harmonischen dehnt und biegt – dort die schneidenden Dissonanzen, die Schläge und die ohnmächtige Auflehnung. Wer sich aber von dieser Gegensätzlichkeit nicht kopfscheu machen liess, kam alsbald den Parallelen auf die Spur. In beiden Werken ist ein ähnlicher Ernst und eine vergleichbare emotionale Dichte, gefasst in energischem Formwillen. 

 

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Die Kluft zwischen 1868 und 1948 kann man sich kaum gross genug vorstellen. Sie zu ermessen ist deshalb so schwierig, weil wir uns dem 19. Jahrhundert nicht nur nahe fühlen, sondern den Abschied von ihm noch nicht vollzogen, geschweige denn bewältigt haben. Die naturwissenschaftlichen Weltbilder, die gesellschaftlichen Wertordnungen, die ästhetischen Kriterien vermutlich der meisten Menschen sind noch immer die des vorletzten Jahrhunderts. Und auch die wenigen, die an geistesgeschichtlichen Entwicklungen, gesellschaftlichen Umorientierungen und wissenschaftlichen Revolutionen bewusst teilnehmen, sind beim Versuch, die Gegenwart zu deuten, immer wieder auf das 19. Jahrhundert verwiesen. Sprach- und Denkmuster der religiösen Artikulation sind weitgehend die des 19. Jahrhunderts, und die Trennlinien, an denen sich Dissens und Disput über religiöse Gegenstände entfachen, haben ihren Ursprung ebenfalls zu einem grossen Teil in dieser Zeit. Noch deutlicher ist der historische Rückbezug erkennbar bei der gesellschaftlichen Funktion, welche die bürgerliche Kultur dem Phänomen Religion auch heute noch zuweist. Der symbolische Zusammenhalt der Welt durch sinnstiftende Mythen und Riten und die Befriedigung des Konsensbedarfs einer in Antagonismen zerfallenden Gesellschaft funktionieren zwar nur noch partiell (und damit, gemessen an ihrem Anspruch, überhaupt nicht mehr), aber als nostalgische Phantasien sind sie noch virulent. 

 

Die historischen Tatsachen des Holocaust, des Overkill-Potentials und der globalen Umweltbedrohung haben die Welt objektiv verändert, indem sie den metaphysischen Optimismus, der sich in früheren Zeiten allen Katastrophen und Ungeheuerlichkeiten zum Trotz immer wieder behaupten konnte, nachhaltig untergraben haben. Wir kennen die Welt nicht anders als gebrochen und vieldeutig. Eine aus der Gegenwart entwickelte religiöse Sprache kann deshalb nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit des 19. Jahrhunderts aus der Idealität des Erhabenen schöpfen, sondern steht vor der Aufgabe, die Grunderfahrung der Widersprüchlichkeit zu artikulieren. 

 

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Die Beziehung von Brahms’ Requiem und Schönbergs Überlebendem ist ein Modell der gegenwärtigen geistigen Lage. Wer sich auf die Seite des Spätromantikers schlagen will, um von dort aus den Modernen ausschliesslich als Störung wahrzunehmen, kann dies tun – um den Preis, augenscheinlich verkehrt in der Geschichte zu stehen und eine irreale Position einzunehmen. Der geschichtlich mögliche Positionsbezug ist der umgekehrte: von Schönberg aus auf Brahms zurückzuschauen, Schönbergs Auseinandersetzung mit Brahms nachzuvollziehen und so beide Komponisten in einer geschichtlichen Beziehung zu hören. Schönberg hat mit der Preisgabe der Tonalität ein unumstösslich scheinendes Prinzip gestürzt, aber er war «zwischen innerem Zwang zum Umsturz und Pietät gegenüber der Überlieferung gespalten» (Dahlhaus). Adorno stellt fest, Schönberg sei gespannt zwischen «der Verpflichtung durch die älteren Mittel und dem magnetischen Feld des noch nie Erprobten». Die Neue Musik ging nicht aus einem wilden Aufbruch, nicht aus einem begeisterten Sturm und Drang hervor, sondern aus einer doch eher schmerzlichen Trennung, einem nicht bewältigten Abschied. Gerade von Schönberg gegenüber Brahms konnte es keine endgültige Absage sein. Der Ältere war aus der Sicht des Jüngeren nicht dem Vergangenen verhaftet, sondern Brahms hatte durch seine formschaffende Gestaltungskraft etwas vorbereitet, was er zweifellos noch nicht hatte ahnen können.

 

Die gleiche geschichtliche Beziehung gilt für die religiösen Befindlichkeiten. Wer heute Partei ergreift für die bürgerliche Religion des vorletzten Jahrhunderts mit den Sicherheiten ihrer einfachen Metaphysik und ihrer klaren gesellschaftlichen Verzweckung, und wer mit Hilfe dieses Rückgriffs die zweifelnde moderne Religiosität abwertet oder verurteilt, verhält sich wie ein Brahms-Anhänger, der aus dessen Sicht Schönberg beurteilt – nämlich geschichtlich irreal. Sinnvoll ist jedoch die umgekehrte Perspektive. Einer nachmetaphysischen Theologie ergeht es mit ihren Vorläuferinnen ein wenig wie Schönberg mit Brahms. Sie findet gerade in den Aussagen der religiösen Überlieferung eine Fülle von Gründen dafür, dass die Welt des Glaubens nicht aufgehen kann in den gesellschaftlichen Funktionen der bürgerlichen Religion. Im Religiösen ist mehr Menschliches aufbewahrt, als eine durchrationalisierte Gesellschaft zulässt. Deshalb wirft der Glaube auch immer wieder die Schranken der Funktionalisierung um, mit denen man Religion zu kanalisieren versucht. Es geht nicht darum, dass der Zweifel gegen die naive Gewissheit Recht behält, aber man muss die Tatsache respektieren, dass der Zweifel der Erbe der Gewissheit ist. Ein humaner, nicht rechthaberischer Zweifel wird das Erbe respektieren. Das ist es, was Schönberg, in allem Respekt, gegenüber Brahms vorzubringen hat.

 

Erstveröffentlichung im Programmbuch des 2. Frankfurter Sonoptikums, das unter dem Motto «Zauber und Gegenzauber» vom 9.–12. September 1993 stattfand, konzipiert und künstlerisch geleitet von Armin Brunner. Dort wurde unter dem Titel «Klage und Anklage» die Collage Brahms/Schönberg aufgeführt – mit dem Vermerk im Programm: «Wir bitten darum, die Programmabfolge nicht durch Beifallskundgebungen zu unterbrechen.» Mein Text von 1993 erscheint hier leicht gekürzt und bearbeitet.

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