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In der Identitätsfalle

In der globalen Kulturdebatte der letzten 25 Jahre hatten  zwei Bücher grossen Einfluss. Die Diskussion zwischen den Positionen Samuel Huntingtons und Amartya Sens ist durchaus nicht abgeschlossen. Vor allem Letzterer sollte angesichts der Debatten um Identitätspolitik neu gelesen werden.

 

Auf vielen Schauplätzen alltäglichen Lebens muss die zivile Gemeinschaft praktische Antworten finden auf Fragen, die sich eine Generation früher noch nicht stellten: Soll der Staat eingewanderten Familien und Clans seine Normen zur Gleichstellung der Geschlechter auferlegen? Sind Forderungen strenger Muslime nach Separation der Geschlechter etwa im Gesundheitswesen hierzulande statthaft? Wie sind kulturell begründete Rechtsverletzungen, im Extremfall Ehrenmorde, zu beurteilen? Haben Religionen generell Anspruch auf Respektierung aller ihrer Kulte, Riten, Bräuche und Normen? Soll der Ruf des Muezzins, wie die Schweizerische Vereinigung für Landesplanung in einer Studie fordert, dem Läuten von Kirchenglocken gleichgestellt sein?

 

Das Nebeneinander von Ethnien, Kulturen und Religionen hat sich in einem Mass verdichtet, mit dem nicht nur viele Individuen schlecht zurechtkommen, sondern das auch gesellschaftliche Institutionen auf harte Proben stellt. Die Auseinandersetzungen verlaufen häufig in vorgespurten Bahnen. Auf der einen Seite halten Verfechter des multikulturellen Zusammenlebens unbeirrt an der Parole fest, Verschiedenheiten führten zur Bereicherung und Vitalisierung der Gesellschaft. Wer diesen Frieden stört mit Hinweisen auf kulturbedingte Brüche im gesellschaftlichen Zusammenhang, wird leicht in die Nähe fremdenfeindlicher Mentalitäten gerückt. Die gibt es allerdings zunehmend: unwirsche Herr-im-Haus-Posen rechter Ultras, simple Sündenbockmechanismen als Erklärungen für gesellschaftliche Missstände und aggressive Verständnislosigkeit gegenüber allem, was als fremd empfunden wird.

 

Samuel Huntington hat mit seinem «Clash of Civilizations» (1996) die Meinungen polarisiert. Ursprünglich als zeitgeschichtliche Analyse der grossen politischen Konfliktlinien angelegt, hat Huntingtons Sichtweise in der anschliessenden Debatte sich zu einer ideologischen Gesamtschau versteift. Als Berater der amerikanischen Regierung hatte er wohl einigen Einfluss auf deren Art, über die Rolle von Kulturen und Religionen in der globalisierten Welt zu denken. «Civilizations», in der Regel mit «Kulturen» übersetzt, sind in dieser Sicht die grossen Kulturkreise, die sich dynamisch entwickeln und nicht scharf abgrenzen lassen. Trotz solcher Einschränkungen nimmt Huntington eine Gliederung vor. Demnach teilt sich die Welt in einen westlichen, einen slawisch-orthodoxen, einen islamischen, einen hinduistischen, einen chinesischen und einen isolierten japanischen Kreis. Fraglich ist nach Huntington die Abgrenzung einer afrikanischen und einer lateinamerikanischen Kultur. 

 

Interessanter als die diskutable Einteilung der Welt ist bei Huntington die soziologische Begründung für die gewachsene Bedeutung von «Kultur». Eine Hauptursache findet er im Wegfall der bipolaren Ordnung von kommunistischem und kapitalistischem System. Identitätsstiftend sei nicht mehr die Antwort auf die Frage «Wo stehst du?» in dieser universalen Polarität. Zu beantworten sei im Zeitalter nach 1989 die Frage «Wer bist du?», und die so erfragte Identität werde vermehrt gefunden im Rückbezug auf Herkunft, Religion, Sprache, Brauchtum, Institutionen, Werte – kurz: in der Kultur. Paradoxerweise seien es gerade die Prozesse der Globalisierung, durch die kulturelle Differenz als Distinktionsmerkmal hervorgehoben werde. Das eigene Anderssein gerate erst recht zum identitätsstiftenden Moment, wenn die Verschiedenartigkeit von Kulturen im eigenen Lebensradius in Erscheinung tritt.

 

Dieser Analyse kann man weitgehend folgen. Vieles scheint denn auch Huntingtons These seit dem Erscheinen seines Buches bestätigt zu haben. Den islamistischen Terror auf diesem Hintergrund zu deuten, ist zum Gemeinplatz geworden. Vor der gleichen Folie wird auch die oft beobachtete Eskalation der Empfindlichkeiten und Ansprüche wahrgenommen, mit der islamische Gruppierungen und Exponenten sich gegenüber und in westlichen Gesellschaften bemerkbar machen. Die Last der weltgeschichtlichen Ereignisse und die erstarkte Präsenz muslimischer Immigranten im Westen haben es mit sich gebracht, dass die Multikulturalismus-Debatte heute weitgehend eine Islam-Diskussion ist. Die eingängige Formel des «Clash» zeichnet das Bild einer globalen Konfrontation mit einem expansiven intoleranten Islam und wird in dieser rohen Form zunehmend zum festen Bestandteil des politischen Repertoires nationalkonservativer Parteien. Durch ihren ideologischen Charakter funktioniert die Clash-Formel als Verstärker, der auch kleinere Irritationen als Anzeichen welthistorischer Verwerfungen erscheinen lässt. 

 

Die Schwächen von Huntingtons Überflug-Theorie wurden indessen vielfach aufgedeckt. Ein höchst bemerkenswerter Diskussionsbeitrag war derjenige des indisch-amerikanischenen Harvard-Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen. Sein Buch «Identity and Violence: The Illusion of Destiny» (2006) erschien auf Deutsch unter dem plakativen, aber durchaus treffenden Titel «Die Identitätsfalle» (der auf Huntington gemünzte Untertitel «Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt» tut hingegen in Sachen absatzfördernder Zuspitzung des Guten zuviel). Sen kritisiert Huntingtons Ansatz, der die Welt als einen Verbund von Religionen, Kulturen oder Zivilisationen definiert. So gelange man zu einer «solitaristischen Deutung» menschlicher Identität, wonach die Menschen einer und nur einer Gruppe angehörten – eben derjenigen ihrer «Kultur», die obendrein, so moniert Sen, bei Huntington in unzulässiger Weise einseitig religiös definiert sei. Sen zerpflückt beispielsweise Huntingtons Qualifizierung des indischen Subkontinents als hinduistischen Kulturkreis, was allein schon wegen der starken Präsenz des Islams in diesem Raum nicht zulässig sei. 

 

Spöttisch kommentiert Sen den Vergleich zwischen Korea und Ghana, den Huntington in einer anderen Publikation anstellt. Die Tatsache, dass die beiden Länder, nachdem sie in den 1960er-Jahren wirtschaftlich etwa gleich schlecht gestellt waren, sich seither so eklatant verschieden entwickelten, meint Huntington als Beleg für die alles bestimmende Prägekraft der unterschiedlichen «Civilizations» verwenden zu können. Sen zeigt jedoch, dass nicht «Kultur» die Ursache des Niedergangs des einen und des Aufstiegs des anderen Landes ist, sondern dass der Erfolg Koreas entscheidend auf korrekte Analyse entwicklungshemmender gesellschaftlicher Probleme (in erster Linie Mangel an allgemeiner Bildung) und auf weitsichtige politische Entscheidungen zurückzuführen ist. 

 

Mit Schärfe erhebt Sen Einspruch gegen Huntingtons Suggestion, freiheitliche und demokratische Werte seien einzig dem westlichen Kulturkreis eigen. Er beschreibt als Beispiel die erstaunlichen Freiheiten, die in philosophisch-religiösen Diskursen Indiens um 1590 möglich waren, verweist auf afrikanische Traditionen des Aushandelns und gemeinsamen Entscheidens – und klagt die Weltmächte an, sie trügen «die schreckliche Verantwortung dafür, in der Zeit des Kalten Krieges die Demokratie in Afrika untergraben zu haben.» 

 

Die Kolonialmächte deuteten die Kulturen der unterworfenen Länder als rückständig und minderwertig (Sen liefert dafür einige hanebüchene Beispiele), und der Westen insgesamt gewöhnte sich an, den exklusiven Besitz sämtlicher freiheitlichen Strömungen der Geistesgeschichte zu beanspruchen. All dies schuf den Nährboden eines antiwestlichen Reflexes der einst Kolonisierten. So begreiflich diese Aversion sein mag, schadet sie doch den Benachteiligten, indem sie Freiheit und Demokratie verächtlich macht und als Schwäche und Degeneration der verhassten Siegerkultur denunziert. Allerdings – und das macht die Konfrontation erst recht brisant – eifern dabei die Unterlegenen der Zivilisation ihrer Beherrscher insgeheim nach. Im aufschlussreichen Kapitel «Westen und Antiwesten» erläutert Sen diesen von vielen Widersprüchen gekennzeichneten Komplex.

 

Schwerer als die wissenschaftlichen Mängel wiegen nach Sens Ansicht jedoch die politischen Implikationen von Huntingtons Theorie: «Unser gemeinsames Menschsein wird brutal in Frage gestellt, wenn man die vielfältigen Teilungen in der Welt auf ein einziges, angeblich dominierenden Klassifikationsschema reduziert, sei es der Religion, der Gemeinschaft, der Kultur, der Nation oder der Zivilisation – ein Schema, dem in Sachen Krieg und Frieden jeweils einzigartige Wirkung zugeschrieben wird. Die Aufteilung der Welt nach einem einzigen Kriterium stiftet weit mehr Unfrieden als das Universum der pluralen und mannigfaltigen Kategorien, welche die Welt prägen, in der wir leben. (...) Die Hoffnung auf Eintracht in der heutigen Welt beruht in hohem Masse auf einem klareren Verständnis der Vielzahl unserer menschlichen Identitäten und der Einsicht, dass diese sich überschneiden und damit einer scharfen Abgrenzung nach einem einzigen unüberwindlichen Einteilungskriterium entgegenwirken.» 

 

Die Menschen als individuelle Personen mit komplexen, vielschichtigen Identitäten zu sehen und nicht als Angehörige eines religiös-kulturell definierten Kollektivs: Dies ist das liberale Postulat des multikulturell bewanderten Autors. Von kommunitaristischen Konzepten hält Sen aus genau diesem Grund wenig. Er erkennt in deren Versuchen zur Revitalisierung sozialer Bezüge die gleiche philosophisch problematische Bevorzugung des Kollektivs gegenüber dem Individuum wie bei Huntingtons Kulturalismus. Die Menschen müssen auch die Freiheit haben, sich den Vereinnahmungen durch kollektivistische Strömungen zu entziehen, beispielsweise mit dem Entscheid, sich überhaupt nicht religiös zu definieren.

 

Mit diesen ur-liberalen Postulaten ist Sens Haltung jedoch nicht vollständig umschrieben. Er verbindet sein Plädoyer für die Respektierung individueller Freiheiten und Potenziale mit einer differenzierten Einschätzung klassisch liberaler Wirtschaftspolitik im globalen Rahmen. So attestiert er der globalisierungskritischen Bewegung, sie stelle im Wesentlichen die richtigen Fragen und könne so zu einer besseren Globalisierung beitragen. Institutionelle Reformen seien nötig, «um aus der Globalisierung eine gerechtere Sache zu machen.» So müsse in den armen Ländern das Bildungs- und Gesundheitswesen ausgebaut und durch internationale Absprachen die Seuche des Waffenhandels eingedämmt werden; ärmere Länder bräuchten Zugänge zu den Märkten der reicheren; Patentgesetze und Anreizsysteme für die Pharmaindustrie müssten Medikamente für die Armen zugänglich machen usw. Die materielle Gerechtigkeit sei zu ergänzen mit «der intellektuellen Fairness im Umgang mit der Weltgeschichte, die wir einerseits brauchen, um die Vergangenheit der Menschheit besser zu verstehen (was keine geringe Aufgabe ist), und andererseits, um den falschen Eindruck einer umfassenden Überlegenheit des Westens zu überwinden, der vollkommen unnötig zu Identitäts-Konfrontationen beiträgt.»

 

Die ebenso besonnene wie engagierte Position dieses Wissenschafters kann die Debatten um Multikulturalismus und Globalisierung weiterbringen. Als Inder, der seine Karriere im Westen gemacht hat, als Ökonom mit interkulturell orientiertem kulturgeschichtlichem Wissen, als Liberaler, der an der sozialen Verantwortlichkeit staatlicher und supranationaler Institutionen festhält, marschiert Sen mit keiner formierten Truppe. Sens intellektuelle Haltung ist die des sorgsamen Prüfens. Er vertraut darauf, dass Vernunft sich in hartnäckiger Auseinandersetzung mit Fakten bewährt, und er rechnet mit der Überzeugungskraft vernünftiger Argumente und vorsichtiger Urteile.

 

An plakativen und simplen Grosstheorien wie jener Huntingtons beklagt Sen besonders den Umstand, dass die falschen Leute davon profitieren. Zu ihnen zählt er nicht nur neokoloniale Positionen, sondern ausdrücklich auch deren angeblichen Gegenpol in Gestalt von Promotoren der Multikultur und Aktivisten des interreligiösen Dialogs. Die verklärende Propagierung des Respekts vor kultureller Differenz führe allzu oft dazu, dass Menschen in ihre Traditionen eingesperrt blieben. Diese Haltung stärke die Position konservativer Kräfte in den jeweiligen Gruppen und liefere ungewollt von aussen Rechtfertigungen für atavistische Ordnungen, die innerhalb eingewanderter Gruppierungen oft nicht mehr unzweifelhaft akzeptiert seien. Zudem bringe die Idee des Dialogs unter Spitzenvertretern der Religionsgemeinschaften den beteiligten Exponenten einen Prestige- und Machtzuwachs und führe bei den durch sie vertretenen Gemeinschaften zu einer künstlichen Hierarchisierung. Amartya Sen wehrt sich dagegen, dass im Gefolge von Huntingtons Theorie der Faktor Religion (Huntingtons «Civilizations» sind im Wesentlichen religiös definiert) zum Schlüssel für alles und damit in einer fatal freiheitsfeindlichen Weise zu wichtig gemacht wird.

 

Dieser Blogpost ist die leicht gekürzte Fassung des Artikels «Freiheit ist nicht westlich. Zur Debatte um den Multikulturalismus», erschienen in der «Reformatio» Nr. 2, 2007.

 

Das besprochene Buch: Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. Verlag C. H. Beck, München 2007. 208 S.

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