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Brahms auf umgedrehter Bühne

Das Opernhaus Zürich hat das Brahms-Requiem ohne anwesendes Publikum aufgeführt und so inmitten der aufgeregten Stimmen der auf Corona fixierten Medienwelt einen starken Kontrapunkt gesetzt.

Macht der Lock-down trostbedürftig? Bringt er das verdrängte Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes zu Bewusstsein? Weckt er das Bedürfnis, sich mit der eigenen Vergänglichkeit auseinanderzusetzen? Wahrscheinlich kaum oder nur in ähnlich seltenen Momenten wie in Zeiten ohne Corona. Insofern herrscht trotz Ausnahmezustand Normalität. Der Medienbetrieb jedenfalls behandelt das Thema Corona wie jede übergrosse Geschichte: mit Helden und Versagern, einem Schwall von Zahlen und Prognosen sowie mit immer neuen Aufregungen und endlosen Talkshows. 

 

Doch es könnte sein, dass diese Routine täuscht und die Dinge diesmal anders liegen als sonst immer. Vielleicht ist die Vehemenz der medialen Fixierung auf ein einziges Thema der Versuch, von einer untergründigen Verunsicherung, von einer drohenden Lähmung abzulenken. Indem man die Maschinerie der üblichen Problembewältigung oder Problemabschiebung auf Hochtouren am Laufen hält, vermeidet man den Blick in den Abgrund, in den wir möglicherweise stürzen könnten. Gewohnt, vor dem Horizont heraufziehender Gefahren wie Atomkrieg, Überbevölkerung, Umweltzerstörung, Ausbruch sozialer Spannungen und Klimaerhitzung zu leben und uns damit zu beruhigen, es werde uns ja noch Zeit bleiben – geübt also, uns in einer auf Zusehen gewährten Zwischenperiode möglichst komfortabel einzurichten, ereilt uns nun plötzlich eine unheimlich schnelle Katastrophe. Sie lässt uns keine Zeit, sondern erweist sich als trickreicher Feind, der uns die mühsam errungenen Etappensiege bei der Eindämmung der Coronaseuche jederzeit aus der Hand schlagen kann.

 

Und jetzt also dies: «Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.» So beginnt «Ein deutsches Requiem». Johannes Brahms begann die Arbeit an dem Werk bereits 1861 mit 28 Jahren. Erst 1869 wurde es in Leipzig in der jetzigen Form uraufgeführt. Mit dem von Publikum und Kritik gefeierten Werk erzielte Brahms den Durchbruch in die oberste Liga der Komponisten. Sein Requiem ist keine Totenmesse nach herkömmlicher Liturgie. Es entstand nicht in kirchlichem Auftrag und war von Anfang an als konzertantes Werk gedacht. Die Texte hat Brahms selber in akribischer Arbeit aus der Lutherbibel kompiliert. Doch Christus kommt im Requiem nicht vor. Es preist eine freischwebende Religiosität, feiert einen Kult des Wohlklangs, dessen ästhetische Erhabenheit damals als musikalischer Gottesdienst erlebt werden konnte. Ist das heute nicht Retro und völlig aus der Zeit gefallen?

 

Wir kennen die Gründe nicht, weshalb das Zürcher Opernhaus und sein baldiger Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda dieses Werk ausgewählt haben als Gabe für das im Lock-down gefangene Publikum. Sie werden sich vielleicht gefragt haben, ob diese spätromantische Trostmusik, diese Zelebration bürgerlicher Kunstideale des 19. Jahrhunderts 150 Jahre später in einer globalen Krise Halt geben könne. Ragt das Requiem aus seiner historischen Zeitbedingtheit heraus? Als Brahms das Stück komponierte, entstanden die impressionistischen Meisterwerke, welche die Malerei revolutionierten und nach vorn bis in unsere Zeit katapultierten. Von solchen Energien lässt das Requiem prima vista nichts erkennen. Nicht umsonst galt Brahms schon seinen Zeitgenossen als ein künstlerisch Konservativer. Dass diese Etikette entgegen dem ersten Anschein gerade auch bei op. 45 nicht ganz passt, zeigt zum Beispiel der durch alle harmonischen Verschlingungen der Schlussfuge von Nr. 3 hindurch beibehaltene Grundton. Da hat Brahms etwas gewagt.

 

Mit dem in der dramatisch gestikulierenden Fuge gegen alle Modulationen unveränderlich in der Tiefe verharrenden Ton hat Brahms, der mit seinem Requiem ausdrücklich nicht predigen wollte, dann doch eine klare Botschaft in das Stück hineingeschrieben. Es ist ein Signal, das den Charakter des Stücks zu konterkarieren scheint. Das Werk gilt ja als Gefühlsbad. Schon die grossartige Eröffnung setzt den Ton mit den direkt ans Zwerchfell gehenden tiefen und leisen Streicherphrasen und dem ebenfalls ganz unten liegenden lang-lang-kurz artikulierten «Selig sind» des Chors. Es könnte nun immer so weitergehen, doch Brahms setzt Gegenakzente. In der erwähnten Fuge wagt er gar eine harmonische Grenzüberschreitung, die den betörenden Wohlklang stört. Die Hörenden sollen aufmerken und nicht nur fühlen, sondern auch denken, sich nicht bloss tragen lassen, sondern verstehen.

 

Mit der Live-Darbietung von Nosedas Requiem-Interpretation bei «Arte» und dem Streaming der TV-Aufzeichnung ist nun aber auch eine aussergewöhnliche Inszenierung verbunden. Weil das Opernhaus geschlossen ist, gibt es kein Publikum. Zudem müssen die Aufführenden mittels raumgreifender Platzierung vor dem Virus geschützt werden. Noseda ordnet das gross besetzte Orchester auf der weiträumigen Opernhausbühne an mit Blickrichtung nach hinten, wo das Dirigentenpodest steht. Die Chorsängerinnen stehen lose verteilt in den Sitzreihen des Parketts, die Sänger oben auf den Rängen. Lydia Teuscher (Sopran) und Konstantin Shushakov (Bariton) haben ihre Auftritte ebenfalls in den Parkettreihen. Die primäre Blickrichtung der Kameras geht von einer Position hinter dem Dirigenten aufs Orchester und durch die Bühnenöffnung in den hell erleuchteten Zuschauerraum hinaus. 

 

Diese räumliche Inszenierung akzentuiert die Huis-clos-Situation: Das Publikum ist ausgeschlossen und nur sekundär – über die mediale Vermittlung – einbezogen; die Singenden und Musizierenden spielen und singen zunächst für sich selbst. Indem das Setting diese Lesart nahelegt, gibt es auch den bei abgefilmten Konzerten sonst immer etwas zudringlich wirkenden Close-ups einen veränderten Sinn. Die Bilder aufgeblasener Oboistenbacken, inniger Geigerinnenmimiken, singender Münder, konzentrierter Blicke überall und der Schweisstropfen des Dirigenten sind hier keine voyeuristischen Zugriffe, sondern Ausdruck einer vereinten, im geschützten Rahmen erbrachten künstlerischen Anstrengung, die allein der Musik gilt und auf keine sonstigen Wirkungen zielt.

 

Aufgeführt wird eine Musik, welche die Hörenden konfrontiert mit Sätzen wie «Ach wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben». Die verbale Beschwörung von Hinfälligkeit und Vergänglichkeit ertönt in der gleichen musikalischen Grammatik wie das «Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet». Hier führt Musik das Ängstigende und das Tröstliche zusammen. Dass sie es um der Schönheit Willen tut, verleiht ihr Glaubwürdigkeit. Sie will weder mit Angstmacherei manipulieren noch mit billigem Trost Geschäfte machen. Die Musik schafft aus Angst und Trost ein Ganzes, das dem vielschichtigen Wesen des Humanen nahekommt. Angst und Trost sind in einer Weise reflektiert, dass Gemüt und Verstand berührt sind. 

 

Das Brahms-Requiem mitten im Lock-down auf der umgedrehten Opernhausbühne hat diese Musik auf überraschende Art ins Heute versetzt. Sie mag die musikalische Sprache einer vergangenen Zeit sprechen. Die mentale Distanz zu den darin vertonten Texten mag fast unüberwindlich scheinen. Doch die ganz und gar gegenwärtige Inszenierung und Vermittlung ergibt eine Berührung über die Zeiten hinweg.

 

Das Video ist bei «Arte» bis zum 6.8.2021 abrufbar.

 

Siehe auch: Wohlklang in trostloser Zeit - Was Schönberg gegen Brahms vorzubringen hat

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