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Empörung und Erbauung

Vor genau zwanzig Jahren, am 27. April 2003, ist die deutsche Theologin Dorothee Sölle im Alter von 73 Jahren gestorben. Sie war als christliche Publizistin und Aktivistin einer politischen Frömmigkeit sehr einflussreich.

Sie war Star vieler Evangelischer Kirchentage und verkörperte Opposition in Permanenz. «Atheistisch an Gott glauben»«Das Recht, ein anderer zu werden»«Phantasie und Gehorsam» – die Buchtitel waren zugleich Gegenstände leidenschaftlicher Debatten und Embleme einer neuen Frömmigkeit. Wie nur wenige ihres Fachs hat Dorothee Sölle es verstanden, die Themen von Kirche und Theologie der vergangenen Jahrzehnte in Formeln zu fassen. Sie hat dazu beigetragen, die christliche Sprache zu erneuern.

 

Es war anfänglich, etwa in den Kölner Politischen Nachtgebeten, eine Sprache, die aufhorchen liess, weil sie ohne verblichene Weltbilder und metaphysische Behauptungen an die Erfahrungs- und Gefühlswelt moderner Menschen anschloss. Die Sinnbedürftigkeit der antiautoritären Generation kam hier auf ihre Rechnung, indem Religion nicht als Agens der Beruhigung, sondern der Empörung vorgeführt wurde. Dorothee Sölle konnte glaubhaft und überzeugend von einem Gott reden, der nicht der repressive Allmächtige, sondern der Leidende und Mitleidende ist. Sie erfand Sprache und Habitus für Menschen, die in kirchlichen Lehrgebäuden nicht mehr beheimatet waren und Unterschlupf suchten in einer Spiritualität, in der Intimes und Politisches gut aufgehoben war.

 

Intellektuell zählte Dorothee Sölle nicht zur Avantgarde theologischen Denkens. Ihre Stärke war der angriffige Transfer eines in der akademischen Theologie zwar längst bewussten, aber mit einer gewissen Verlegenheit heruntergespielten Bruchs zwischen Moderne und Tradition. Sie trug den enthüllenden Impetus des Achtundsechziger Aufbruchs in die Theologie hinein und die sich gegenseitig potenzierenden Energien von Prophetie und Mystik aus der Kirche hinaus. Sie deswegen eine Vermittlerin zu nennen, würde allerdings einem Missverständnis Vorschub leisten. Dorothee Sölle nahm sich nie zurück, ging keinem Streit aus dem Weg und suchte nicht die Harmonisierung. 

 

Es widerspricht dieser offenkundigen Militanz nicht, dass Dorothee Sölles besondere Leistung in der sprachlichen Ausstattung eines Milieus aufbrechender christlicher Bürgerlichkeit liegt. Sie hat ein Verständigungsmedium geschaffen zur Entwicklung von Wir-Gefühlen. Früher nannte man diese Art religiösen Redens «Erbauung» – schade, dass dieser Begriff aus der Mode gekommen ist! Er trifft das kommunikative Ziel und die emotionale Temperierung gut, und er macht Querverbindungen zur Romantik erkennbar: Dem Erbaulichen geht es in der Rede von Gott um das Verhältnis des Individuums zu sich und zur Welt, um die Seele und ihr Bedürfnis nach Verwandten.

 

Seelenverwandtschaften haben für die Lebensfährte der Theologin und Dichterin die grössere Rolle gespielt als kühle Analysen. Die Stationen ihres Lebens und Kämpfens tragen Namen, die nach und nach eine unschwer extrapolierbare Reihe bildeten: Vietnam, Frauenbefreiung, Apartheid, Nicaragua, Nachrüstung, Atomenergie, Mystik, Globalisierung, Kapitalismus, Irak. Auf welcher Seite sie stand, war immer von vornherein klar. Als Gründe genügten oft die Chiffren einer politischen Romantik, und so hat sie sich mit einzelnen ihrer Solidarisierungen – etwa mit den Sandinisten in Nicaragua – gewiss herzhaft getäuscht. 

 

Wiewohl der Begriff des Politischen in ihrer Schriftstellerei eine plakative Wichtigkeit hat und das politische Argument in ihrer Rhetorik breiten Raum einnimmt, war sie keine politische Denkerin. Dorothee Sölle war viel eher die Exerzitienmeisterin einer neuen Frömmigkeit, die Vorbeterin einer verjüngten religiösen Sprache, die Erfinderin beflügelnder Litaneien. Vermutlich hat sie mit ihrem Schreiben und Reden für viele Menschen eine religiöse Sprache überhaupt erst wieder möglich gemacht.

 

Dieser Text erschien nach Sölles Tod als mein Nachruf in der «Reformierten Presse». Er ist hier (abgesehen vom Lead) unverändert wiedergegeben.

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