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Barth meets Benjamin

Der Theologe Andreas Frei begeistert mit seinem wissenschaftlichen Erstling. Dieser basiert auf der kühnen Idee, einen ganz Grossen der Theologie mit einem ebenso Bedeutenden der Philosophie ins Gespräch zu bringen. Darin geht es um die Antwort auf die Ur-Krise des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg.

Kriegerische Ereignisse waren immer schrecklich, doch mit dem Ersten Weltkrieg tat sich ein neuer Abgrund des Zivilisationsbruchs auf. Maschinelles Gemetzel bislang unvorstellbaren Ausmasses und die chauvinistische Mobilisierung ganzer Nationen samt ihren geistigen Eliten führten in den totalen Krieg. Theologen und Philosophen zählten zu den Antreibern. Die meisten von ihnen waren zumindest Kriegsbefürworter.

Für Karl Barth (1886–1968) und Walter Benjamin (1892–1940) wurde der Schock des Ersten Weltkriegs und der von ihm zutiefst korrumpierten Kultur zum zwingenden Anlass, die Grundlagen ihres Denkens zu revolutionieren. Barth fand die gesuchte neue Theologie in seinem Deep Reading des Römerbriefs. War schon die erste Fassung seiner grossen Römerbriefstudie von 1919 ein Big Bang für die nach der Kriegserfahrung desorientierte Theologie, so wurde die stark überarbeitete, radikalisierte Fassung von 1922 vollends zum Fanal. 

Auch Benjamin hat es zu einem neuen Denken gedrängt. In zahlreichen Einzelstudien und in dem als Torso hinterlassenen und zum Mythos gewordenen Passagen-Werk fand es Gestalt. Für die Ausarbeitung einer systematischen Philosophie fehlten ihm der geschützte Raum und die erforderliche Lebenszeit. Das letzte Werk, die Thesen «Über den Begriff der Geschichte», gilt als Benjamins Vermächtnis. Der Text wurde 1940 im Pariser Exil fertiggestellt, doch seine Entstehung reicht in die frühen Zwanzigerjahre zurück. Barths Römerbrief und Benjamins Thesen sind dadurch als faktisch zeitgleiche Reflexe des Ersten Weltkriegs zu sehen. 

Mit diesen Referenztexten, Barths Römerbrief von 1922 und Benjamins Thesen von 1940, beschäftigt sich eine vergleichende und einordnende Studie von Andreas Frei. Sie ist von der Theologischen Fakultät in Bern als Masterarbeit angenommen worden. Frei ist heute Wissenschaftlicher Assistent und Doktorand am dortigen Institut für Systematische Theologie. Sein im TVZ Verlag erschienenes Buch ist ein intellektuelles Highlight, indem es zwei eminente Positionen von Theologie und Philosophie, wie der Titel sagt, «im Angesicht der Krise» durcharbeitet und zueinander in Bezug bringt. Dieses Ausloten weltpolitischer und geistiger Krisenerfahrungen macht Freis Buch ausserdem zu einem gegenwartsbezogenen Werk, und dies ohne jene vordergründigen «Aktualisierungen», für die Theologen ja oft anfällig sind.

Freis Gegenüberstellung ist kühn, und sie ist in sich stimmig und fruchtbar. Zwei Denker, die sich nie begegnet sind und von denen nicht bekannt ist, ob sie einander je wahrgenommen haben, erweisen sich als verbunden in ihrer tiefen Erschütterung angesichts des Zivilisationsbruchs des Ersten Weltkriegs. Sie ringen mit der Frage eines Sinns der Geschichte, nachdem die im 19. Jahrhundert noch gängigen Sinnkonstruktionen von Philosophie und Theologie an der historischen Realität zerschellt sind.

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Barth und Benjamin bewegen sich in unterschiedlichen Revieren, aber im gemeinsamen Koordinatensystem der abendländischen Philosophie. Für beide spielt der Neukantianismus eine wesentliche Rolle. Barths jüngerer Bruder Heinrich war Philosoph und mit der neukantianischen Marburger Schule verbunden. Sein Einfluss ist im Römerbrief von 1922 deutlich erkennbar. Karl Barth bediente sich dieser Philosophie; sie lieferte ihm einen Begriff, der ihm gelegen kam: Der Terminus des Ursprungs ist im Neukantianismus ein «Mittel reinen Denkens», das zu einer kritischen Negation anleitet, die alles Gegebene infrage stellt. In der von Heinrich Barth modifizierten Fassung wird der Begriff für Karl Barth zu einem Attribut Gottes, der in fundamentaler Opposition zum Gegebenen und in kategorialer Distanz zum Menschen steht. Der Ursprungs-Begriff dient ihm dazu, die Souveränität Gottes argumentativ zu untermauern. Barth geht es vor dem Hintergrund der krisenhaft erfahrenen theologisch-kirchlichen Kriegstreiberei darum, jede religiös-politische Indienstnahme Gottes zurückzuweisen.

Während Barth sich das neukantianische Ursprungskonzept eklektisch aneignet, ist die Beziehung Benjamins hierzu die einer eigenständigen Auseinandersetzung. Er kritisiert an Kants Erkenntnislehre deren strenge Abgrenzung von der Erfahrung. Benjamin versucht die Lücke zwischen Erfahren und Erkennen zu schliessen durch Fokussierung auf Sprache. Durch sie fliesst Erfahrung ins Erkennen ein. Auch das Religiöse findet so seinen Ort im philosophischen Denken, was dieses für die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Katastrophen öffnet. Im assimilierten jüdischen Bürgertum, dem Benjamin entstammt, findet sich eine Empfänglichkeit für einen solchen «post-assimilatorischen Messianismus». Diese Form der Geistigkeit zeigt sich etwa bei Gershom Scholem, dem Erforscher jüdischer Mystik, mit dem Benjamin lebenslang in streitbarer Freundschaft verbunden war. Für sie beide wie auch für Leo Löwenthal, Franz Kafka, Gustav Landauer, Ernst Bloch, Georg Lukács und andere war Apokalyptik nicht der mythische Endpunkt, sondern die manifeste Krise der Geschichte.

In diesem Punkt sind Barth und Benjamin sich nah. So könnte Barths Satz «Die Geschichte selbst (…) ist die Anklage gegen die Geschichte» auch von Benjamin geschrieben sein. Barth setzt die Offenbarung gegen die Geschichte: Das Heil ist unhistorisch. Barth scheut sich aus diesem Grund nicht, einer «atheistischen Weltanschauung» das Wort zu reden. Denn für ihn ist Gott eben nicht in der Geschichte (darin grenzt er sich vehement gegen einen Mainstream der Theologie des 19. Jahrhunderts ab), sondern im (neukantianisch gedachten) Ursprung, der nicht geschichtlich ist. Der vermeintliche Sinn der Geschichte enthüllt sich als deren Krisencharakter. Geschichte ist für Barth «das Spiel der Menschengerechtigkeit».

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Anlass für die endgültige Ausarbeitung von Benjamins Geschichtsthesen war die Brüskierung der europäischen Linken durch den Hitler-Stalin-Pakt. Benjamin lebte in Paris im Exil, als diese Bombe platzte und die Hoffnung auf den Sowjetkommunismus als Verbündeten im Kampf gegen den Nationalsozialismus in Luft auflöste. Zerstört war durch diesen «Verrat» nicht in erster Linie eine strategische Option – die ja später, nach Benjamins Tod, durch den opferreichen Kampf Russlands im Verbund mit den Alliierten gegen Nazi-Deutschland restituiert wurde. Auf der Strecke blieb vielmehr das Vertrauen in eine für unerschütterlich gehaltene Kontraposition zum Faschismus. Auf die Sachwalter des historischen Materialismus war offenkundig kein Verlass, und so schmolzen denn die Reste des Zutrauens in einen angeblich unaufhaltsamen geschichtlichen Fortschritt als verlässlichen Sinn der Geschichte dahin. Die marxistische Utopie – und mit ihr die Idee einer Geschichtsphilosophie – hatte sich erledigt.

Benjamins Thesen «Zum Begriff der Geschichte», in seinem letzten Lebensjahr in Paris unter kümmerlichen Bedingungen in die überlieferte Form gebracht, sind ein voraussetzungsreicher Aufsatz, der nur im Kontext der späten Arbeiten Benjamins zu verstehen ist. Als Kernsatz für Benjamins Geschichtsdenken nennt Andreas Frei eine vielzitierte Stelle aus dem Passagen-Werk: «Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.» (Statt «zerfällt in» würde man heute wohl sagen «besteht aus».) Ein berühmtes Bild hat denn auch eine Schlüsselfunktion in den Geschichtsthesen. Die neunte der 18 Thesen «Über den Begriff der Geschichte» ist eine Interpretation von Klees «Angelus Novus», einer aquarellierten Zeichnung, die sich in Benjamins Besitz befand. Benjamin nennt ihn den «Engel der Geschichte» und macht ihn so zu seinem eigenen Bild. In dessen Beschreibung begegnet uns in poetisch verschlüsselter Form der im Angesicht der Katastrophe erreichte Stand seines Denkens über die Geschichte und seinen eigenen Ort in ihr. In dieser neunten These heisst es über den Engel:

«Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten erwecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft (…)»

Wie der Engel konnte auch Benjamin die Trümmer der Geschichte nicht zusammenfügen. Diesem heimlichen Ziel galt wohl sein Passagen-Werk, mit dem er seinem Geschichtsdenken durch die Auseinandersetzung mit dem 19. Jahrhundert die lange gesuchte Form geben wollte. Was er hinterlassen hat, ist eine riesige Collage von Materialien, Beobachtungen, Ideen – ein Konvolut, das in seiner inspirierenden Rätselhaftigkeit das unabgeschlossene Denken Benjamins exemplarisch repräsentiert.

Der Begriff des Bildes ist bei Benjamin sehr spezifisch konstituiert. Das Wort meint hier eine «Dialektik im Stillstand», eine Unterbrechung der gewohnten Wahrnehmung durch den Blick «in die Tiefe». Vergangenheit und Gegenwart lassen sich im dialektischen Bild als unabgeschlossen erkennen. Die Vergangenheit «hat auf die Gegenwart einen Anspruch», da (unerfüllte) Hoffnung «in sie eingesprengt» ist. Diese messianische Erwartung ruft nach einer anderen Zukunft. Wie fluid diese Begrifflichkeit ist, zeigt sich in Benjamins Rückgriff auf Prousts Konzept der mémoire involontaire, der unwillkürlichen Erinnerung, die etwa beim Duft der in Lindenblütentee getauchten Madeleine aufploppt. Sie ist sozusagen das Modell des «dialektischen Bildes», der nicht auslöschbaren «unwillkürlichen Erinnerung der erlösten Menschheit».

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Benjamins Thesen verschränken revolutionären Materialismus mit apokalyptischem Messianismus. In der tiefen Diesseitigkeit dieses Denkens steckt gemäss Andreas Freis Analyse die klare Differenz zu Barths Theologie. Kenntnisreich arbeitet der Autor die Hintergründe und Konturen von Barths und Benjamins Antworten auf die universelle Krise des Ersten Weltkriegs heraus. Seine Versuchsanordnung einer Gegenüberstellung dieser beiden Positionen erweist sich gerade in deren Unterschiedlichkeit als fruchtbar. Das Vis-à-vis macht sie beide deutlicher.  

Allerdings greift der Untertitel der Studie dann doch zu hoch: «Karl Barth und Walter Benjamin im Gespräch» – das ist (auch in dem vom Autor gemeinten übertragenen Sinne) nicht ganz eingelöst. Was durchaus schade ist. Die gegenseitige Befragung der beiden Positionen müsste theologische und philosophische Funken schlagen, indem sie noch deutlicher zeigte, wie nah die beiden Exponenten einander in ihrem Denkhabitus sind. Dass bei einem solchen phantasierten Treffen der ältere Barth, der viele seiner radikalen Positionen des Römerbriefs von 1922 später revidiert hat, aussen vor bleiben muss, liegt an der Versuchsanordnung und ist für eine aussagekräftige Analyse zwingend. Barth-Anhänger mögen das vielleicht unfair finden. Andreas Frei hat richtigerweise nicht versucht, sie zufriedenzustellen.

Das hier vorgestellte Buch sprengt den Rahmen einer Masterarbeit bei Weitem. Es beeindruckt mit der reichhaltigen und schlüssigen Nachzeichnung der beiden Positionen. Deren Gegenüberstellung erweist sich als theologisch und philosophisch spannender Versuch, auch wenn er keine Grundlage in den Biographien Barths und Benjamins hat. Man liest diese gründliche Studie gewissermassen als Beobachter eines Experiments und bewundert die Courage und die Lust des Verfassers, sich auf eine Herausforderung einzulassen, deren Ausmasse kaum von Anfang an zu überschauen waren. 

Es wäre zu wünschen, dass Andreas Frei an der Thematik dranbliebe, um das hypothetische Gespräch zwischen Barth und Benjamin in geeigneter Form weiterzutreiben. Sie beide – der eine in seinen ein grosses Lebenswerk eröffnenden Anfängen, der andere in seinem durch intellektuelles Temperament und widrige Umstände erzwungenen fragmentarischen Schaffen – stehen für eine faszinierende Radikalität des Denkens. Sie versetzt die intellektuelle Existenz in jene Ursprungssituation, aus der allein Neues hervorgeht. Und wann wäre dies nötiger als in einer Zeit der Krisen!

Andreas Frei: Bilder der Geschichte im Angesicht der Krise. Karl Barth und Walter Benjamin im Gespräch, Bd.14 der Reihe reformiert!, Theologischer Verlag Zürich 2023, 284 S.

Bilder: 
Walter Benjamin, 1928 (Passbild, Walter Benjamin Archiv)
Karl Barth, 1916 © Karl Barth Archiv (04 KBA_1710_432)
Paul Klee: Angelus Novus, 1920, Aquarellierte Zeichnung, 31,8 x 24,2 cm, Israel-Museum, Jerusalem

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