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Leben im Modus des Essays

Stephan Wackwitz schaut in seinem neuen Buch «Geheimnis der Rückkehr» auf sein Leben als Kulturdiplomat im Dienst des Goethe Instituts. «Sieben Weltreisen» – so der Untertitel – hat er absolviert. Dabei ist er einen verschlungenen Weg vom schwäbischen Pietismus zu einer ironischen Selbstdistanz gegangen.

Wackwitz blickt auf eine Karriere zurück, die in Stuttgart, wo er 1952 geboren ist, mit der Promotion bei Heinz Schlaffer über Hölderlins Elegien beginnt. Die Herkunft aus dem schwäbischen Pietismus hat den Studenten – wenig überraschend – in die marxistische Orthodoxie geführt. Sein linker Radikalismus trotzt lange den wachsenden Irritationen. Zweifelnde Standhaftigkeit ist ja schliesslich eine Existenzform auch des pietistischen Glaubens. Mit diesem Lebens- und Denkmuster lässt sich auch die marxistische Option durchhalten. Zudem sprechen beide Welten die «Sprache des Ernstes», wie Wackwitz im Rückblick feststellt. Beim Übergang von der einen zur anderen ist bei partiellem Wechsel des Vokabulars das Sprachspiel in den Grundzügen erhalten geblieben. 

 

Dass in dem jungen Mann mehr steckt als ideologische Folgsamkeit, äussert sich zuerst im Wunsch, der Enge der schwäbischen Metropole zu entkommen. Wackwitz bekommt eine Stelle als Lektor am Londoner King’s College. Er trifft dort auf eine akademische Bohème, die keine Mühe hat, gleichzeitig links und aristokratisch zu sein und die ihm mit ihrem intellektuellen Stilbewusstsein Eindruck macht. Im neuen geistigen Habitat gewinnt er an Beweglichkeit, und so wird London schliesslich zum Sprungbrett des Einstiegs in die internationalen Verzweigungen des Goethe Instituts. Seine Stationen – mit steigender Position bis zum Institutsdirektor – sind in der Folge Tokio, Krakau, Bratislava, New York, Tiflis und Minsk – die «sechs Weltreisen», über die das Buch berichtet.

 

Wackwitz erzählt von beidem: den Wechselbädern der alle paar Jahre neuen Kulturbegegnungen und seinen geistig-existenziellen Suchbewegungen, die mit dem Heraustreten aus dem Kosmos der «Sprache des Ernstes» in Gang gesetzt werden. Ein erster mächtiger Impuls kommt von Jürgen Habermas, dessen Denkweg von marxistischen zu liberalen Ideen für Wackwitz zum Vorbild wird. In Tokio, wo er von der Erfahrung eines entfesselten, an keine calvinistische Herkunft zurückgebundenen Kapitalismus überwältigt ist, arbeitet er sich in sonntäglichen Auszeiten durch Habermas’ «Theorie des kommunikativen Handelns», das Opus magnum des heroischen Versuchs, ein philosophisches Wertefundament zu begründen, ohne zu metaphysischen Konstruktionen Zuflucht zu nehmen.

 

Habermas bleibt, wie alles in diesem ambulanten Leben, eine von zahlreichen Durchgangsstationen. Deren wichtigste ist das Werk Richard Rortys, das die philosophische Tradition des amerikanischen Pragmatismus in die Postmoderne weiterführt und eine liberale Haltung des ironischen Eklektizismus postuliert. Durch Rorty erhält Wackwitz Zugang zu einem intellektuellen Spielfeld, auf dem sein Wechsel vom engen pietistisch-marxistischen Gedanken- und Gefühlsgehäuse zur freien Beweglichkeit der liberalen Existenz keiner Rechtfertigung bedarf. Die so gewonnene ironische Selbstdistanz macht ihn auch fit für die kulturellen Wechselbäder seiner beruflichen Herausforderungen als deutscher Kulturdiplomat auf verschiedenen Kontinenten. 

 

Die Schilderungen der kulturellen Schocks und Befreiungen, die ihn wiederholt in neue Welten hineinwerfen, gehören zum Besten dieses Buches, das ebenso sehr Reisebericht wie Bildungsroman ist. Die wechselnden intellektuellen Anstösse kommen immer von aussen. Sie haben wesentlich mit Wackwitz’ kosmopolitischer Biographie zu tun. Ein feines Sensorium für Menschen, Städte, kulturelle Codes, eine mentale Durchlässigkeit für das Andere und Fremde sind es, die Wackwitz mit einer Begabung für hohe Erfahrungsintensität ausstatten. Immer wieder treiben starke äussere Eindrücke seine innere Entwicklung an – es ist eine eigentliche Umkehr des pietistischen Bildungsmusters.

 

Wackwitz bevorzugt früh das Genre des Essays. Die Kunst des personal Essay ist das Erste, was ihn an der englischen Kultur beeindruckt. Montaigne, der in seinem Turm über die Welt und sich selbst nachdenkt und die daraus hervorblühenden Reflexionen in eine Form des Vorläufigen bringt, wird, wie könnte es anders sein, zu seinem Mentor. Essayistik ist die Manifestation eines Denkens, das seine genuine Unfertigkeit bei der Behandlung jeglicher Gegenstände zum heimlichen Thema macht. Der Essay betreibt eine Formung der Welt im Unabgeschlossenen, wie sie dem auf sich gestellten Individuum eben möglich ist, und erreicht so als verdecktes, aber hauptsächliches Ziel die Selbstvergewisserung des denkenden Subjekts.

 

Essayistik ist das gespiegelte Gegenstück zu einer pietistischen Frömmigkeit, die in allen Lebens- und Welterfahrungen die Umkehr von der Sünde zur Gnade reproduziert. Beide machen eine Form der Unfertigkeit zur existenziellen Selbstgewissheit: Wie dem Frommen die unausweichliche Erkenntnis des Verhaftetseins in der Sünde, so widerfährt dem Essayisten seine kategoriale Verwiesenheit auf das Offene und Unfertige seines Tuns. Keine intellektuelle Brillanz erspart ihm die Notwendigkeit des sich Bescheidens. Er bekommt die Welt und sich selbst denkerisch nicht in den Griff, sondern muss sich mit Fragmenten und Näherungen helfen. Doch indem diese geistige Haltung eine schriftstellerische Form erhält, gewinnt sie ihre Gültigkeit.

 

Ist Wackwitz’ Lebensbeschreibung nun also ein essayistisches Buch? In Teilen, ja. Aber der Autor hat es nicht so mit dem sich Bescheiden. Der Text schiesst gelegentlich über die Essayform hinaus, die dem Verfasser doch als Lebensprogramm gilt. Das Buch suggeriert eine Schlüssigkeit, einen verborgenen Sinnzusammenhang, der im Unfertigen eben gerade nicht auszuweisen ist. Verräterisch spricht Wackwitz von «parapsychologischen Korrespondenzen», die er in seinem Leben wahrgenommen haben will. Ständig entdeckt er «Bedeutungen», wenn er auf einzelne Begegnungen zurückschaut. Er meint genau zu wissen, welche Begebenheiten ihn «verwandelt» haben. Daher die emphatischen Schilderungen von Freundschaften, die wie die geheime Gesellschaft vom Turm in Goethes Wilhelm Meister die Bahn seiner inneren Entwicklung bestimmen. Das Wackwitz-Buch über Wackwitz hat streckenweise einen selbstgefälligen Beiklang, der paradoxerweise besonders in den selbstkritischen, zuweilen selbstanklägerischen Passagen hörbar wird.

 

Sei's drum. Der Tanz ums Ich hat in der Literatur eine Legitimität, die zu schmälern leicht zur moralistischen Entgleisung wird. Neben Montaigne könnte auch Augustin als Vorbild für dieses Buch in Anspruch genommen werden. Wackwitz legt gewissermassen die Confessiones von 2024 vor: die Reflexion der Vita eines ganz auf der Höhe der Zeit agierenden Intellektuellen, der genau weiss, wie man heutzutage sein eigenes Ich zum Thema machen kann, ohne in einer philosophisch gebildeten Community gegen Ansprüche der Form zu verstossen. Entstanden ist auf dem schmalen Grat zwischen Authentizitäts- und Stilgeboten eine sich in ihrer intellektuellen und sprachlichen Elaboriertheit sonnende Lebensbeichte – und, das sei betont, ein lesenswertes, inspirierendes und nicht zuletzt auch unterhaltendes Buch.

 

Stephan Wackwitz: Geheimnis der Rückkehr. Sieben Weltreisen, S. Fischer 2024, 365 S.

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