
Über drei Generationen erstreckt sich die Geschichte türkischer Einwanderer, die in Deutschland stranden oder ankommen. Necati erzählt aber nicht Migrationsgeschichten, sondern webt ein Beziehungs- und Motivgeflecht, in dem das komplizierte, widersprüchliche Leben in allen Facetten zutage tritt, das hier unter anderem vom Aus- und Einwandern, vom Ankommen und Fremdbleiben geprägt ist.
Der 1988 im Ruhrpott geborene Necati Öziri schreibt in literarisch verfremdeter Form seine eigene Geschichte. Im Roman heisst er Arda, die Eltern sind türkische Einwanderer und in seiner Familie kumulieren sich die vielfältigen Realitäten der Migration. Doch Öziri schreibt keine Themenliteratur, er verfolgt keine Agenda. Sein Romanerstling ist nichts anderes als Literatur, grosse Literatur. «Vatermal» vereinigt vieles zugleich: Schelmenroman, Bildungsroman, Familiensaga und genaue Erkundung einer migrantischen Lebenswelt.
Ardas Eltern repräsentieren zwei ganz unterschiedliche Arten der Auswanderung. Metin, der Vater, war in der Türkei politisch verfolgt und nach Deutschland geflohen. Doch es gelang ihm nicht, dort Fuss zu fassen. Er haute heimlich ab in die Türkei, obwohl ihm dort Gefängnis drohte. Metin liess seine Frau Ümran, die Tochter Aylin und den Sohn Arda einfach in Deutschland zurück und blieb fortan verschollen.
Der verschwundene Vater ist das dunkle Zentrum, um das der Roman kreist. Arda liegt als junger Mann mit Organversagen im Spital und erzählt dem herbeifantasierten Vater seine Geschichte. Doch dieser Auslöser der Romanerzählung ist nur eine von vielen Zeitebenen und Erzählperspektiven. Die Geschichte greift zurück zur Grosselterngeneration: Auch sie sind schon nach Deutschland ausgewandert, weil sie in einem Erdbeben das Haus und das gesamte Hab und Gut verloren haben. Ümran lassen sie bei einer schrecklichen Tante in der Türkei – ein nicht enden wollender Horror für das Mädchen, den sie erst mit Achtzehn durch Flucht nach Deutschland beenden kann.
Ümrans Geschichte und genauso die ihrer Tochter Aylin sind in eigenen Zeitebenen und Erzählsträngen verortet. Sie bilden allein schon je einen Roman im Roman. Mit diesen Frauenfiguren schafft Öziri zwei vielschichtige, nie ganz durchschaubare und dabei ganz unvergessliche Gestalten. Das gesamte Personal zeichnet sich durch diese Art Lebendigkeit aus. Da gibt es keine Pappfiguren, die geschilderten Menschen behalten gegenüber dem literarischen Zugriff eine individuelle Souveränität, und gerade indem der Autor diese respektiert, kommt er seinen Figuren nahe.
Nicht nur die Hauptpersonen, auch die beiläufig Erscheinenden sind so behandelt. In «Vatermal» gibt es eigentlich keine Nebenfiguren. Selbst der Schlägertyp, der mit seiner Gang den am Bahnhof herumlungernden Arda übel zurichtet und ausraubt, ist sorgfältig als Person gezeichnet. Es ist das Kennzeichen wahrer Literatur, das sich da beobachten lässt, und es fällt in diesem Roman wohl deshalb auf, weil ein solches literarisches Niveau halt selten anzutreffen ist.
«Vatermal» bietet nicht nur vielfältige Erzählstränge und -perspektiven, das Buch wechselt auch immer wieder Tempo und Tonalität: Neben beklemmenden Schilderungen alltäglicher Mühsal am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie stehen Sequenzen von umwerfender Komik. Wenn Danny, einer der Freunde des 16jährigen Arda, Susanna anbaggert, die mit ihren Freundinnen auf der gegenüberliegenden Strassenseite residiert und mit rotem und goldenem Glitter im Décolleté die Jungs verrückt macht, dann zündet Öziri ein Feuerwerk von Slapstick und genauester Auslotung jugendlicher Befindlichkeiten. Wie dieser Autor arbeitet, zeigt sich später im Buch: Das Baby von Danny und Susanna hat nach dem Stillen roten und goldenen Glitter im Gesichtchen.
Glanzstück ist die Passage über die Einbürgerungsprozedur auf dem Ausländeramt. Arda kommt hier ans Ziel seiner Wünsche. Er ist Abiturient, hat sich durch den bürokratischen Dschungel gearbeitet und steht vor dem letzten Termin bei dem Beamten, den er seit der Kindheit kennt (seine Mutter schleppte ihn stets mit zur Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung). Und was macht Arda? Er dröhnt sich mit einem Freund zu, zieht das Zeug extra tief rein für maximale Wirkung und präsentiert sich dem Beamten in ziemlich verpeiltem Zustand. Als er einen Text von dreihundert Zeichen schreiben soll, um seine Deutschkenntnisse zu beweisen, stellt er sich quer: Er sei hier aufgewachsen, mache gerade Abitur und werde Literatur studieren. Doch Vorschrift ist Vorschrift, und so kritzelt er auf das Formular: «Ich werde eure Töchter vögeln bis sie arabisch sprechen. Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar. Ich breche nachts den Stern von euerm Benz und trage ihn an meiner Halbmondkette. Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos.» – Der Beamte liest das, ohne eine Miene zu verziehen, moniert zwei kleine Deutschfehler, stempelt und unterschreibt das Formular. Arda erhält die Bescheinigung, mit der er den deutschen Pass bekommt.
Auch dieser Schreibtischmensch, der in einem literarisch schlichteren Produkt als Ausbund von Sturheit etikettiert wäre, ist bei Öziri eine interessante Figur: ganz und gar Beamter zwar, aber bereit, Ardas doppeltes Spiel ein klein wenig mitzuspielen und so ein Verständnis für den jugendlichen Rebellen zu signalisieren.
Immer wieder entzückt das Buch mit genauen Details und sprechenden Situationen. Da befiehlt zum Beispiel der Inhaber eines Dönerladens seiner Frau, in die riesigen Mayonnaise-Kanister, die in der Garage stehen, ein wenig Olivenöl einzurühren, damit die Sauce im Laden als «hausgemacht» verkauft werden kann. Und als Arda es endlich zum Studenten der Literatur gebracht hat, kommt er mit lauter jungen Leuten aus der Mittel- und Oberschicht zusammen. Deren Verhaltens- und Sprech-Codices gehören zu einer Welt, mit der Arda nichts gemein hat. Als Sophia, Simon und Reza über ihre toleranten Eltern sprechen, die ihre Studienwahl (Literatur statt Medizin oder Technik) problemlos akzeptiert hätten, kann Arda zwar mit einstimmen (Mutter weiss nicht, was er studiert, der Vater ist aus dem Spiel), aber für ihn markiert das Gespräch nicht Gemeinsamkeit, sondern die soziale Kluft zwischen ihm und den dreien.
«Vaterland» ist ein dicht gewobener Text, in den die komplexe und widersprüchliche Erfahrungswelt des Protagonisten so eingearbeitet ist, als flösse sie einfach in den Erzählstrom ein. Doch einfach ist hier gar nichts, weder die geschilderten oder bloss beiläufig gestreiften Biographien noch der Werdegang des vaterlosen Arda. Erst recht nicht einfach ist die Erzählform dieser figurenreichen, verschachtelten Geschichte, in der man sich ohne Hilfe von Zeit- und Ortsangaben zurechtfinden muss – was die Orientierung im Buch in vielleicht ähnlicher Weise erschwert wie ethnisch-kulturelle Fremdheit das sich Durchschlagen im Leben schwierig macht. Zum Teil dreht das Buch den Spiess um: Indem es manches aus dem türkischen Alltag unkommentiert hinstellt, gibt es dem nichttürkischen Leser eine kleine Dosis Fremdheitserfahrung.
Necati Öziris Erstling stand 2023 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und wurde mehrfach ausgezeichnet. In den Feuilletons wurde es regelrecht gefeiert. Nun, da ich das Buch für mich entdeckt habe, gebe ich den begeisterten Reaktionen Recht. «Vatermal» trifft mitten in unsere westeuropäische Gegenwart, in der Fremdsein mehr und mehr zum Kernthema gesellschaftlicher Identität und Kohärenz wird. Und das Buch trifft diesen Kern deshalb so empfindlich, weil es nicht von Themen und Problemen redet, sondern von Menschen.
Bild: Necati Öziri im Video-Still aus einem Gespräch des Goethe-Instituts
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