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Menschen im Widerstand

Es gibt Mitteilungen im täglichen Nachrichtenstrom, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Vor zwei Tagen las ich in der NZZ einen Bericht über Menschenrechtsanwälte in Saudiarabien. Mohammed Fahd al-Kahtani und Abdullah Hamed wurden zu zehn bzw. fünf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht befand sie laut NZZ folgender Vergehen für schuldig: Untergrabung der nationalen Einheit, Treuebruch und Ungehorsam gegenüber dem Herrscher sowie die Absicht, die öffentliche Ordnung zu stören. Die NZZ fügt hinzu: „Der eigentliche Grund für die hohe Strafe ist, dass sie im Namen der Saudischen Vereinigung für Bürger- und Menschenrechte (Acpra) Reformen forderten und sich für politische Gefangene einsetzten.“

 

In Saudiarabien soll es nach Schätzungen der Acpra rund 30’000 politische Gefangene geben. Trotz der vehementen Repression durch die Machthaber kommt es immer wieder zu Protestaktionen. Der Bericht erwähnt Kundgebungen der letzten drei Monate in Riad und Buraida, bei denen Angehörige politischer Häftlinge – zumeist Frauen – Auskunft über deren Verbleib und die Absetzung des Justizministers gefordert haben. Die Manifestanten seien jeweils schnell festgenommen worden.

 

Dazu passend, erschien in der Märzausgabe des „Merkur“ der Artikel „Lob der Dissidenz“ des deutschen Politologen Helmut König. Er befasst sich mit dem Widerstand im sowjetischen Imperium seit dem Moskauer Protest vom 5. Dezember 1965 gegen die Verhaftung der Schriftsteller Andrei Sinjawski und Juli Daniel, welcher als Stunde Null der Dissidenz gilt. König erinnert weiter an die Demonstration auf dem Roten Platz im August 1968 gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, streift die Ursprünge der polnischen Gewerkschaftsaufstände von 1976 und erzählt von der tschechischen Intellektuellenbewegung „Charta 77“. Deren unerbittliche Verfolgung durch das Regime dauerte bis zu dessen Ende 1989 unvermindert an, sodass einer der Hauptexponenten der Charta praktisch aus dem Gefängnis heraus zum Staatspräsidenten gewählt wurde: Václav Havel.

 

Königs Artikel ruft nicht nur die eminent wichtigen historischen Fakten in Erinnerung. Er entwirft zusätzlich auch eine Phänomenologie der Dissidenz. Dieser Versuch ist verdienstvoll, weil er der Wahrnehmung von Widerstand gegen Diktatur und Menschenrechtsverletzung die erforderliche Tiefenschärfe geben kann. Woher rührt Dissidenz, von was für Triebkräften lebt und welchen Idealen folgt sie, wie zeigt sie ihre Haltung, was für Wirkungen gehen aus ihr hervor, und wo liegen die Grenzen ihrer politischen Potenziale?

 

König hebt den strikten Legalismus dieser „klassischen“ Dissidenz hervor. Die Protestierenden riefen die Verfassungen ihrer Staaten an, stützten sich auf die OSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, in welcher die Staaten Europas inklusive Ostblock sich feierlich zum Prinzip der individuell einklagbaren Menschenrechte bekannten und verschrieben sich so programmatisch wie konsequent der Gewaltlosigkeit.

 

Mit dieser Policy verhielt sich der Widerstand zweifellos rational; zum einen, weil es kaum eine andere Option gab. Zum anderen kann man im Zeithorizont von Jahrzehnten dem gewaltfreien Legalismus des Widerstands gewiss einen Anteil am Sturz der Regime gutschreiben. Hier bewegt sich der der politische Analytiker Helmut König auf einigermassen festem Grund.

 

Weniger trittsicher ist er beim Versuch, die moralisch-philosophischen und bei vielen Dissidenten auch religiösen Verankerungen und Bewegkräfte des Handelns zu eruieren. Verwundert stellt er fest, dass die bei der Wahl der Mittel so rationalen Dissidenten bei der Beurteilung ihrer persönlichen Aussichten jegliches Kalkül ausschlugen. Ihr Einsatz überwog den erwartbaren Nutzen um ein Vielfaches. Weshalb also gingen sie in den Widerstand?

 

Königs Antwort: Sie entschieden sich für ein Handeln im Sinne der Moral. Dies entspreche der sokratischen Vernunftmoral, wonach es besser sei, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Und weshalb ist es nach Sokrates besser? Weil man lieber nicht bis ans Lebensende mit einem Verbrecher zusammenlebt.

 

Erklärt dies den moralischen Kraftakt, sich einem übermächtigen System in den Weg zu stellen? Der rationalisierende Ansatz reicht nicht recht an die Dramatik einer solchen moralischen Entscheidung heran. Zu der von König ins Feld geführten sokratischen Einsicht gehört Distanz. Die aber steht im Moment der Entscheidung kaum zur Verfügung. Nur ein gewaltiger Energieschub, komme er aus Verzweiflung oder aus der Kraft der Selbstachtung, kann einem Menschen über die existenzielle Schwelle zum einsamen und zunächst aussichtslosen Widerstand hinweg helfen.

 

Der lesenswerte Aufsatz im „Merkur“ benennt etliche der Voraussetzungen, welche das Phänomen der Dissidenz erst möglich machten und zeigt, wie es sich im sowjetischen Machtbereich entwickelt hat. Vor allem aber macht Helmut Königs Essay deutlich, dass die Aufarbeitung dieses Stücks Geschichte erst beginnt – und auch im Blick auf die Gegenwart von grösster Wichtigkeit ist.

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