· 

Zeit

Eine theologisch-philosophische Erkundung

 

Moderne Forschungen haben die Dimensionen von Zeit und Raum gegenüber vorwissenschaftlichen Weltbildern revolutioniert. Da ist einmal die Astrophysik, die mit unvorstellbar grossen Zeitmassen von Jahrmilliarden arbeitet. Gemäss dem heutigen kosmologischen Standardmodell liegt der Urknall etwa 14 Milliarden Jahre zurück. Die Erdgeschichte beginnt vor 4,6 Milliarden Jahren. Innerhalb solcher Zeitdimensionen erscheinen die uns näher liegenden Zeiträume nur wie ein Augenblick. Die Prähistorie – die Zeit seit dem Erscheinen des Menschen – beginnt vor wenigen Millionen Jahren, also im letzten Tausendstel der Erdgeschichte. Die schriftlich dokumentierte Geschichte der Menschheit umfasst rund sechs Jahrtausende, also wiederum in der Grössenordnung des letzten Tausendstels der Zeit, seit der es Menschen gibt. Im Vergleich zu Kosmologie und Geschichte wiegt unser kleines Leben von vielleicht hundert Jahren fast nichts. Dieser Wimpernschlag ist der Raum unserer Erfahrung von Zeit.

 

Erfahrungen von Zeit macht jeder Mensch. Sie sind alltäglich. Anders das Nachdenken über Zeit. Kaum ein Thema bringt uns so an die Grenzen der Vorstellungskraft wie die Frage: Was ist die Zeit? – Hierzu im Folgenden eine Exkursion zu ein paar historischen Stationen des Denkens und Forschens. Die Reise geht gleich einmal 1600 Jahre zurück in die Vergangenheit.

 

Augustinus von Hippo lebte im 4. und 5. Jahrhundert im heutigen Algerien, das damals zum römischen Imperium gehörte. Er ist einer der grossen Denker des Abendlandes und der wichtigste Theologe der Spätantike. Augustin, wie er im deutschen Sprachraum genannt wird, hat ein riesiges Werk hinterlassen. Sein meistgelesenes Buch heisst Confessiones – Bekenntnisse – und wird oft als erste Autobiographie der Literaturgeschichte bezeichnet. Aber es ist mehr als das, nämlich eine am eigenen Leben durchexerzierte Reflexion über das Wesen des Menschen.

 

In den Confessiones finden wir eine faszinierende Mischung von unnachgiebiger Selbsterforschung und intellektueller Anstrengung, das Ganze der Wirklichkeit zu erfassen. Diese doppelte Denkbewegung nach innen und aussen charakterisiert auch das berühmte elfte Buch der Confessiones, das von der Zeit handelt. Der Verfasser beginnt mit einem langen Gebet, in dem es heisst: «Ich will dir den Dienst meines Denkens und meiner Sprache als Opfer darbringen.» Da spricht im frommen Gestus deutlich der Philosoph und Schriftsteller.

 

Augustin möchte wissen: «Wie hast du, Gott, Himmel und Erde gemacht? Ganz gewiss hast du Himmel und Erde nicht im Himmel oder auf der Erde gemacht (…) Nirgends in der ganzen Welt machtest du die ganze Welt, weil es noch nichts gab, wo dies hätte geschehen können (…)» Augustin stellt also die logisch-philosophische Frage nach dem Anfang. Wie kann etwas anfangen, wenn nichts existiert?

 

Der biblische Schöpfungsmythos in Genesis 1 erzählt, Gott habe gesprochen und so die Welt geschaffen, erst das Licht, dann Natur und Geschöpfe bis hin zum Menschen. Darauf bezieht sich Augustin im Fortgang seiner Überlegungen. Und wie er das tut, weist schon voraus auf seine später in diesem elften Buch der Confessiones entwickelte Zeitphilosophie. Augustin fragt sich nämlich, wie denn Worte gesprochen werden konnten, als es noch keine Zeit gab. Wörter sind Laute, die in einem Zeitablauf ertönen oder gedacht werden. Ohne Zeit keine Sprache. Und so lautet Augustins Gedankengang, immer noch in gebetartiger Anrede an Gott gerichtet:

 

«Wenn du also mit erklingenden und vergehenden Worten gesagt hast, Himmel und Erde sollten entstehen, und wenn du so Himmel und Erde gemacht hast, dann gab es vor Himmel und Erde ein körperliches Geschöpf, durch dessen zeitliche Veränderung diese Stimme in der Zeit ablaufen konnte. Aber vor Himmel und Erde gab es keinen Körper (…)»

 

Der Verfasser der Confessiones stösst auf den Widerspruch, der im Gedanken eines nicht verursachten Anfangs steckt. Augustin treibt dieses Paradox sogar noch eine Drehung weiter: Wenn da etwas war, das über Stimme und Worte verfügte, so war dieses Etwas seinerseits von Gott geschaffen, also wiederum vom Wort des Schöpfers ins Sein gerufen. Daraus könnte eine endlose Schleife werden wie die von Huhn und Ei – ein Anzeichen dafür, dass an dem Gedanken eines Schöpfungsaktes in der Zeit etwas nicht stimmt.

 

Was Augustin hier treibt, ist Philosophie im Sinn der grossen griechischen Denker der Antike: logisches Entwickeln von Gedanken aus vernünftigen Grundannahmen heraus und strenges Aufdecken von Widersprüchen im Denkprozess selbst, um so zu besseren Grundannahmen zu gelangen.

 

Augustin philosophiert als ausgebildeter Rhetor. Er hatte als junger Mann in Rom eine Rhetorikschule absolviert – also vernünftiges Argumentieren und überzeugendes Reden gelernt – und war als Rhetoriklehrer in Mailand tätig. Unter dem Einfluss des Mailänder Bischofs Ambrosius wurde Augustin zum gläubigen Christen. Hinfort versuchte er die antike Philosophie mit den Lehren des Christentums zu verbinden, also Vernunft und Glauben zusammenzubringen.

 

Wir waren beim Problem des Schöpferwortes, das es eigentlich vor dem Akt der Schöpfung nicht gegeben haben kann. Augustin löst die Endlosschleife auf mit einer logisch raffinierten und theologisch stimmigen Wendung. Er sagt: Das von Gott gesprochene Wort ist ewig, also nicht ein Phänomen in der Zeit. Was Gott spricht, darf man sich nicht vorstellen als eine Folge von Wörtern – ganz einfach, weil es in der Ewigkeit keine Zeit gibt, die eine Folge ermöglichen würde. Das Schöpferwort ist also ein zeitloser, anders gesagt: ein ewiger Akt des Sprechens.

 

Dieser nicht-zeitliche, ewige Charakter des Schöpferwortes Gottes ist für Augustin der wahre Grund, weshalb die Welt existiert. Und es ist auch die Basis, die das Bestehen der Welt ermöglicht. Wenn Menschen nach dem Existenzgrund der Welt suchen, so Augustin, finden sie ihn in diesem ewigen Schöpferwort, dem Ursprung alles Seienden. Das ist die Quintessenz, die der Theologe Augustin im philosophischen Thema Zeit aufspürt.

 

Augustins Gedankengänge hören sich an diesem Punkt geheimnisvoll an. Mysterienkulte der Spätantike und christliche Mystikerinnen und Mystiker des Mittelalters haben ganz ähnlich von Gott und der Schöpfung gesprochen.

 

Aber es gibt hier eben auch eine Berührung mit jener anderen Geisteswelt, von der Augustin herkommt und die er mit dem Christentum verbinden will. Platon, der griechische Denker aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., hat in seinem Dialog Timaios eine philosophische Verhältnisbestimmung von Zeit und Ewigkeit entwickelt. Augustin, der 800 Jahre nach Platon lebte, hat platonische Philosophie vor allem in Form des zu seiner Zeit sehr einflussreichen Neuplatonismus gekannt.

 

Platonische und dann auch neuplatonische Philosophie fasst die Zeit auf als bewegtes Abbild der unbewegten Ewigkeit. Das Ewige gehört der Sphäre der Ideen an und kommt – wie alle Ideen – in der natürlichen Welt nicht in reiner Form vor.

 

Platon hat seine Philosophie erklärt im Höhlengleichnis: Menschen sitzen lebenslang gefesselt in einer Höhle mit dem Rücken zum Ausgang und können nur auf die dunkle Wand vor ihnen sehen. Hinter ihnen stehen Menschen und werden durch den Höhleneingang so von der Sonne beschienen, dass ihre Schatten auf die Wand vor den Gefesselten fallen. Die bedauernswerten Gefesselten kennen nichts anderes als diese Schattenspiele und halten, was sie an der Höhlenwand sehen können, für die wirklichen Lebewesen.

 

Für Platon, so die Aussage des Gleichnisses, ist allein die Ideenwelt das Wirkliche; was die Menschen als das Reale wahrnehmen, ist nur der Schatten der Ideen. Die Ideenwelt ist zwar der direkten Erfahrung nicht zugänglich, kann aber im strengen philosophischen Denken erfasst und verstanden werden.

Was nun die Zeit angeht, so besteht nach Platons Timaios-Dialog der einzige empirische Berührungspunkt des menschlichen Geistes mit der Idee der Ewigkeit in der Erfahrung des unmittelbaren Jetzt. Wir werden gleich noch sehen, wieviel von dieser idealistischen Zeitkonzeption in Augustins Denken eingeflossen ist.

 

Folgen wir weiter Augustins Gedankengang. Er untersucht probehalber die Frage, was Gott gemacht habe vor der Erschaffung der Welt. Seine logische Antwort: Wenn Gott der Schöpfer aller Dinge ist, dann hat er vor der Schöpfung nichts gemacht. Denn hätte er etwas gemacht, dann wäre ein von ihm geschaffenes Etwas entstanden; und das gab es nicht vor der Erschaffung aller Dinge.

 

Sollte sich aber jemand wundern, so Augustin weiter, dass Gott durch unzählige Zeiträume hindurch gezögert hätte, bevor er endlich sein grosses Werk machte, dann, so Augustin, «dann soll er aufwachen und einsehen, dass er sich aufgrund eines Irrtums wundert.» Klar, es konnten ja keine Zeiten vergehen, bevor Gott sie gemacht hatte. Augustin formt den grossen Gedanken zu einem kurzen Satz: «Es gab kein Damals, wo noch keine Zeit war.»

 

Warum ist das in diesem Zusammenhang ein grosser Gedanke? Er ist von enormer Tragweite, weil er das philosophische Argument ist für die christliche Lehre, die göttliche Erschaffung der Welt sei creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts. – Dieser ungeheure Gedanke liegt in der Geisteswelt der Antike völlig quer und ist auch nicht der Bibel zu entnehmen; er wurde erst möglich in der Verbindung christlicher Theologie mit platonischem Idealismus.

 

Augustin ist für diese kulturgeschichtlich folgenreiche Verbindung eine Schlüsselfigur. Sein Denken über Zeit ist eine wichtige Station der Philosophiegeschichte. Es nimmt Platons Ideenlehre auf und wendet sie theologisch. Für Platon berührt die Idee des Ewigen, wie wir gesehen haben, den menschlichen Geist in der Zeiterfahrung des Jetzt. Davon ausgehend findet Augustin die göttliche Ewigkeit wieder in der Gegenwart, die nicht vergeht, weil immer ein Heute, ein Jetzt ist.

 

Dieses Jetzt stellt Augustin folgerichtig ins Zentrum einer Zeitanalyse, welche die Philosophie durch die Jahrhunderte bis heute beschäftigt hat. Mit aller Anstrengung seines rhetorisch geschulten Denkens versucht Augustin das flüchtige Phänomen Zeit zu fassen. Ich zitiere den berühmten Anfang seines Gedankengangs:

 

«Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiss ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiss ich es nicht.» – Augustin bekennt also, er wisse nicht, was Zeit ist. Aber dann fährt er folgendermassen fort:

 

«Dennoch behaupte ich, dies mit Sicherheit zu wissen: Ginge nichts vorüber, gäbe es keine vergangene Zeit; käme nichts auf uns zu, gäbe es keine zukünftige Zeit; wäre überhaupt nichts, gäbe es keine gegenwärtige Zeit. Aber wie existieren denn zwei von diesen Zeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, wenn das Vergangene nicht mehr und das Zukünftige noch nicht ist?» –Augustin gelangt im weiteren Denkvorgang zu einem irritierenden Schluss:

 

«Und was die Gegenwart angeht: Bliebe sie immer gegenwärtig und ginge sie nicht über in die Vergangenheit, wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wenn also die Gegenwart nur dadurch Zeit ist, dass sie in die Vergangenheit übergeht, wie können wir von ihr sagen, sie sei, wo doch der Grund ihres Seins der ist, dass sie nicht sein wird. Dann können wir in Wahrheit von der Zeit nur behaupten, sie sei, weil sie zum Nichtsein übergeht.»

 

Die logische Ableitung mündet also in ein Paradox – eine Schlussfolgerung, die eigentlich nicht sein kann, aber doch zwingend ist. Mit diesem logischen Paradox legt Augustin die Basis für sein Denken über die Zeit. Es hat einige der wichtigsten philosophischen Werke inspiriert und beeinflusst, etwa die von Martin Heidegger und Edmund Husserl, und es fasziniert die Leser der Confessiones bis auf den heutigen Tag.

Nochmals kurz zusammengefasst: Das Sein von Vergangenem besteht einzig in der Gegenwart von Erinnerung; das Sein des Kommenden existiert allein in der Gegenwart von Erwartung. Die einzige seiende Zeit ist also die Gegenwart. Doch diese ist auf dem gedachten Zeitstrahl nur ein ausdehnungsloser Punkt, ein Durchgang ohne Dauer, also ein Nichts. Das führt unausweichlich zur paradoxen Erkenntnis: Die Zeit ist, und sie ist zugleich nicht.

 

Erst im späten 18. Jahrhundert ist es gelungen, über diese philosophische Zeit-Paradoxie einen entscheidenden Schritt hinauszukommen. Es war Immanuel Kant, der in seiner Erkenntnistheorie zu einer neuen Sicht gelangte. In der Kritik der reinen Vernunft, der ersten seiner drei grossen Kritiken hat er sich mit dem Phänomen Zeit auseinandergesetzt.

 

Für Kant ist Zeit – ebenso wie Raum und Kausalität – eine, wie er das nennt, reine Anschauungsform: Form der Anschauung ist sie, weil sie aller Erfahrung des Wirklichen quasi als Gefäss vorgegeben ist. Wir kennen Zeit nicht aus der Erfahrung, sondern vor der Erfahrung – a priori, wie das bei Kant heisst. Zeit, Raum und Kausalität sind nicht aus der Erfahrung gewonnene Grössen, sondern transzendentale Kategorien. Dieses grundlegend neue Denken hat die Philosophie nachhaltig umgekrempelt.

 

Der Begriff transzendental hat bei Kant nichts mit Transzendenz im religiösen Sinn von Jenseitigem oder auf Gott Bezogenem zu tun, sondern meint die Grundbedingungen des Erfahrens und Erkennens. Die Kategorie der Zeit transzendiert (daher das Wort transzendental) die menschliche Erfahrung, indem sie allem Wahrnehmen und Denken vorausgeht. Kant kommt in seiner Kritik der reinen Vernunft zum Schluss, dass wir nicht wissen können, ob es Zeit, Raum und Kausalität objektiv, als Eigenschaften der Realität und der «Dinge an sich» gibt. Wir können nur wissen, dass unsere Vernunft und unser Erkenntnisvermögen so und nur so funktionieren, dass sie sich dieser transzendentalen Kategorien bedienen. Das Zeitliche, Räumliche und Ursächliche sind die Gefässe aller Vorstellungen, die wir von der Welt haben können.

 

Hat man sich mit Immanuel Kants revolutionierenden Gedanken einigermassen vertraut gemacht, so ist man gewissermassen vorbereitet auf die jüngste grosse Umwälzung im Zeit-Denken: die Spezielle Relativitätstheorie, die Albert Einstein 1905 veröffentlicht hat.

 

124 Jahre nach Kants Kritik der reinen Vernunft kam mit Einsteins Relativitätstheorie eine neue wissenschaftlich-philosophische Revolution. Sie geht aus von einer messbaren Beobachtung: Bewegt man sich auf eine Lichtquelle zu, so wäre zu erwarten, dass das Licht mit höherer Geschwindigkeit ankommt als wenn man stillsteht oder sich von der Lichtquelle weg bewegt. Dies ist aber nicht der Fall. Die Lichtgeschwindigkeit bleibt für alle Beobachter gleich.

 

Dies ist im mechanischen Weltbild der Physik Isaac Newtons ein unlösbares Problem. Einsteins Lösung widerspricht unserer Erfahrung, denn sie lautet: Die Eigenzeit der Beobachter läuft unterschiedlich schnell. Bewegt man sich so, dass das Licht eigentlich schneller auftreffen sollte, so beschleunigt sich die Zeit des Beobachters so, dass er die unveränderte Lichtgeschwindigkeit misst. Im umgekehrten Fall dehnt sich die Zeit des Beobachters. Flöge er mit der Geschwindigkeit des Lichts, so wäre seine Zeit so gedehnt, dass sie gar nicht vergeht. Diese rein theoretische Annahme ist in krasser Weise kontra-intuitiv – und deshalb erst recht ein beliebtes Motiv vieler Science-Fiction-Stories.

 

Noch komplizierter und unanschaulicher wurden die Zeit- und Raumvorstellungen mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, die er 1915 publizierte, zehn Jahre nach der Speziellen Relativitätstheorie. Sie fügt eine weitere Relativität hinzu: Zeit wird auch beeinflusst von Massen im Raum, also von Gravitation. Als bildhafte Umschreibungen dieser abstrakten Theorien wurden der Begriff der Raumzeit und die Vorstellung des gekrümmten Raums geprägt. Doch so sehr diese Begriffe unser Vorstellungsvermögen strapazieren, sind Einsteins Theorien doch längst mehrfach bestätigt. Ohne die Einstein’schen Formeln würden beispielsweise Raumfahrt oder GPS-Navigation nicht funktionieren.

Doch nun wenden wir uns einem anderen Aspekt von Augustins Zeitreflexion nochmals zu, der creatio ex nihilo, und schlagen damit ein weiteres Kapitel unseres Themas auf.

 

Aus dem Gedanken, Gott habe die Welt aus dem Nichts geschaffen, ergibt sich die philosophische Hochschätzung der Freiheit als Grundprinzip der Welt. Wie kommt man zu dieser kühnen These? Was hat die creatio ex nihilo mit Freiheit zu tun? Die Antwort ist überraschend und einfach: Gott war nicht gezwungen, etwas zu schaffen, er hätte es auch bleiben lassen können. Und es gab nichts, das ihn zwang, die Welt gerade so zu schaffen, wie sie ist. Die Schöpfung ist ein freier göttlicher Entschluss. Das Anfangen, der schöpferische Akt bedeutet Freiheit.

 

Der Gedanke lässt sich auch philosophisch ausdrücken: Die Vorstellung der creatio ex nihilo setzt der Kausalität – also dem Prinzip, dass nichts ohne zwingende und ausreichende Ursache, ohne causa existiert – Grenzen. Was für Grenzen sind gemeint?

 

Wird Kausalität, wie das die Naturwissenschaften lange getan haben, als Weltprinzip verstanden, so gibt es rein gar nichts in der Wirklichkeit, was sich nicht auf eine eindeutige und zwingende Ursache, eine causa, zurückführen lässt. Nach dieser Vorstellung geschieht alles gesetzmässig, und deshalb muss auch hinter der Schöpfung eine naturgesetzliche Ursache stecken.

 

Dieser Weltsicht widerspricht die creatio ex nihilo. Sie begreift die Schöpfung als freien Akt und ordnet das Prinzip der Freiheit dem der Kausalität vor. Freiheit hat einen seinsmässigen Vorrang in der Welt.

Damit nicht genug. Es kommt hinzu, dass creatio ex nihilo nicht zu denken ist ohne creatio continua. Was heisst das? Der Schöpfungsgedanke meint nicht bloss einen kreativen Moment am Anfang der Welt, sondern eine beständige Kreativkraft, die das Verschwinden der Schöpfung im Nichts verhindert.

 

Moderne wissenschaftliche Weltbilder kommen dieser Vorstellung entgegen, indem sie kosmologische und subatomare Prozesse annehmen, deren äusserst diffizile, aber stetige Gleichgewichte erst die Welt möglich machen. Wie die creatio ex nihilo, so hat auch diese creatio continua keine erkennbar zwingenden Ursachen. Sie müsste nicht sein und entspricht deshalb einem Prinzip der Freiheit. Schöpfung und Erhaltung der Welt sind in diesem Sinn nicht notwendig, nicht kausal bewirkt, sondern – so der philosophische Fachbegriff – kontingent.

 

Mit diesem Begriff der Kontingenz schwenken wir wieder ein auf unseren Parcours durch die Philosophie der Zeit. Von dem kleinen Exkurs zur Nicht-Notwendigkeit bzw. Nicht-Kausalität oder Kontingenz der Schöpfung nehmen wir eine entscheidende Bereicherung unseres Zeitdiskurses mit.

 

Wenn wir sagen, die Welt sei kontingent – nicht von Grund auf durch Notwendigkeiten und Kausalitäten gesteuert –, so schreiben wir dem Prinzip der Freiheit einen seinsmässigen Vorrang zu. Anders gesagt: Die Wirklichkeit der Welt, das ganze Sein ist so beschaffen, dass immer etwas Neues anfangen kann, das nicht gesetzmässig vom schon Bestehenden abgeleitet ist. Das Prinzip der Freiheit meint nichts anderes als diese Möglichkeit des freien Anfangens.

 

Die 1975 gestorbene Philosophin Hannah Arendt hat diese Freiheitsvorstellung und dieses Prinzip des Anfangenkönnens zum Kern ihres Nachdenkens über Mensch und Gesellschaft gemacht. Sie hat von der Natalität, der Geburtlichkeit des Menschen gesprochen: Jede menschliche Existenz gründet auf einem Anfangen, das nicht determiniert ist. Der Mensch ist gemäss der Philosophie Hannah Arendts wesensmässig zur Freiheit bestimmt.

 

Diese wesensmässige Freiheit ermöglicht immer wieder neue Anfänge, indem sie dem Menschen das Anrecht gibt, sich zu entwickeln. Wird diese Möglichkeit vorenthalten, so ist nicht nur ein Menschenrecht verletzt, sondern das Menschsein als solches missachtet. Was ein Mensch ist in seiner wesensmässigen menschlichen Qualität, das hängt an der Art, wie er seine Geburtlichkeit realisiert – anders gesagt: wie er seine potentielle Freiheit in tatsächliche Anfänge ummünzt.

 

Prüfstein der sich aus lauter Anfängen formenden menschlichen Person ist in Hannah Arendts Philosophie die Zeit. Die Überlegung hinter dieser These geht so: Der wesensmässig freie Mensch kann nur gesellschaftsfähig sein, indem er sich rückwärts zur Vergangenheit und vorwärts zur Zukunft mit sich identifiziert. Das heisst, er übernimmt heute und morgen die Verantwortung für das, was er gestern war und heute ist; und er lässt sich heute und morgen behaften bei den Verpflichtungen, die er gestern und heute eingegangen ist.

 

Diese Art von Verlässlichkeit könnte als selbstverständlich erscheinen. Doch die Erfahrung zeigt, dass sie es nicht ist. Es gibt nur zu viele Menschen, die ihre Freiheit missverstehen und das Vergehen der Zeit dazu missbrauchen, sich aus Verantwortungen und Verpflichtungen zu stehlen. Die Freiheit zu immer neuem Anfangen, so Hannah Arendt, dispensiert uns nicht davon, Verantwortung zu tragen und Pflichten zu erfüllen, uns also in der Zeit als verlässliche Menschen zu bewähren. – Der Parcours unseres Philosophierens über Zeit hat uns endlich in die Niederungen des Alltags geführt und das Gebiet von Moral und Ethik gestreift.

 

Doch kehren wir nochmals zurück zu Augustin und Platon. Beide haben über das Jetzt nachgedacht. Sie sehen im ausdehnungslosen Moment, in welchem Zukunft in Vergangenheit umgewandelt wird, die Gegenwart des Ewigen. Man kann das rein logisch betrachten: Dieser Übergang findet ja immer statt, er hört nie auf und ist in diesem Sinn ist das Jetzt «ewig».

 

Doch Platon und dann vor allem Augustin gehen über die logische Betrachtungsweise hinaus: Wer ganz im Jetzt lebt, sagt Augustin, lebt in der Berührung der Ewigkeit. Er meint damit eine Qualität der Zeiterfahrung, die ganz anders ist als jene, die einfach das Verfliessen der Zeit konstatiert.

Ewigkeit ist nicht unbegrenzte Zeit, sondern etwas anderes als Zeit. Dieses «Andere als Zeit» ist erfahrbar in Momenten intensiver Gegenwart: in der Liebe, in vielen Arten der Hingabe, in religiösen und mystischen Erfahrungen sowie ganz besonders auch in Begegnungen mit Kunst.

 

Heute suchen Menschen solche Gegenwart von «Ewigem» oder von «Nicht-Zeit» vielfach weniger im Religiösen als im Ästhetischen. Das begann im 19. Jahrhundert mit Romantik und Geniekult besonders in Deutschland. Kunst wurde zur neuen Religion mit ihren eigenen Andachtsformen, Kulten, Tempeln und Priestern. Wir hegen und pflegen dieses Kulturverständnis des späten 19. Jahrhunderts zwar noch immer in den Erscheinungsformen der Hochkultur mit Museen, Theatern und Opernhäusern. Gleichwohl haben die meisten zur kultischen Kunstverehrung mittlerweile auch eine gewisse kritische Distanz. Wir haben die Kunst vom Sockel geholt, und das ist auch gut so.

 

Doch ausgerechnet einer, der mit solcher Überhöhung von Kunst besonders unbarmherzig abgerechnet hat, der 1969 verstorbene Philosoph Theodor Adorno, hat in seiner ästhetischen Theorie das Kunsterlebnis dann eben doch beschrieben als einen Moment des Innehaltens, das gewissermassen aus der Zeit herausfällt. Trotz aller kritischen Distanz zum Kult um die Kultur machen viele Menschen die Erfahrung, dass tiefes Erleben von Kunst eine Nähe zum Religiösen hat im Sinn des Mystischen und der Versenkung. Kunst ermöglicht eine andere Erfahrung von Zeit – oder eine Erfahrung von anderer Zeit; und damit sind wir wieder sehr nahe bei Augustin und der Ewigkeit des Jetzt.

 

Das sich Versenken in Kunst ist eine Weise, mit dem «Anderen der Zeit» in Berührung zu kommen. Solche Erfahrungen wären zum Beispiel:

  • Ich steht vor einem Gemälde und habe das Gefühl, dieses Bild habe auf mich gewartet.
  • Ich höre eine Musik, die mich so berührt, so dass es mir vorkommt, als verändere sie etwas in meinem Inneren.
  • Ich lese oder höre einen Text, der mir die Empfindung gibt, ich sei gemeint.
  • Ich gehe im Kino so intensiv mit, dass ich in die Haut einer der Filmpersonen schlüpfe und nicht mehr in meiner, sondern in deren Zeit bin.

Manche mögen sagen: Bei mir ist es eher der Sternenhimmel, das Naturerlebnis, das Nachhausekommen, die innige Vertrautheit mit einem Menschen, die fremdartige Nähe eines Tieres, das Hochgefühl im Sport oder irgend etwas anderes.

 

Zur Verdeutlichung, dass es sich um verschiedene Arten einer ähnlichen Erfahrung handelt, seien sie hier mit dem Phantasiebegriff «Augustin-Momente» bezeichnet. Es sind Inseln im Zeitstrom, die man da erlebt, Momente von höchster Intensität – oder eben: Berührungen der Nicht-Zeit, des Ewigen.

Augustin hat herausgefunden, dass Zeit gleichzeitig ist und nicht ist. Seine Entdeckung könnte erklären, weshalb die Ungreifbarkeit des Phänomens Zeit viele Menschen verunsichert. Dass sich in diesem flüchtigen Jetzt das Ewige oder das «Andere der Zeit» verbergen kann, ist ein Gedanke, der die Verunsicherung aufwiegen kann. In den verschiedenartigen und persönlichen «Augustin-Momenten» ist das in der Zeit Verborgene zu erfahren.

 

Dieser Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Referats vom 30. Januar 2016 in der Bibliothek der Reformierten Kirche Kilchberg/Zürich.

Verwendete Literatur:

Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, Carl Hanser Verlag, München 2015, 271 S.

Kurt Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar, V. Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 1993, 438 S.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0