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Die Grabsteinsammler

Eine Doku-Fiktion aus der Businesswelt

 

Virotec ist – oder vielmehr: war – einer jener Namen, bei denen der allgemeine Bekanntheitsgrad oder auch die Zahl der Mitarbeitenden einen ganz unzureichenden Eindruck vom tatsächlichen Kaliber des dahinter stehenden Unternehmens vermittelt. Trotz dem präsentablen Firmensitz in einer Fabrikantenvilla der Gründerzeit wussten eigentlich nur Insider von der Existenz der Virotec, und selbst diese hatten mehrheitlich keine genaue Vorstellung davon, weshalb hier mit lediglich ein paar Dutzend Beschäftigten Jahr für Jahr hohe zweistellige Millionengewinne ins Trockene gebracht wurden.

 

Einer der Gründe für die so kräftige und stetige Profitabilität lag in der Vergangenheit. Das Unternehmen war, was man in dem jungen Technologiezweig nicht vermutet, solide verankert in der regionalen Industriegeschichte. Nach handwerklichen Anfängen hatte vor reichlich hundert Jahren ein Gewerbetreibender der Heizungs- und Sanitärbranche den Schwung des damaligen Urbanisierungsschubs genutzt und eine kleinindustrielle Produktion aufgebaut. Anders als so mancher fiebrige Spekulant griff er jedoch nicht nach den Sternen, sondern blieb stets auf dem harten Boden seiner Herkunft. Beharrlich vergrösserte er den Betrieb, wobei das Wachstum immer aus dem Erarbeiteten finanziert war.

 

Dieser Haltung blieben auch seine Nachfolger verpflichtet. Wachsen hiess auch fortan die Devise, und zwar erstrebte man ein verhältnismässig langsames, dafür umso stetigeres Fortschreiten. Ende der 1960er Jahre existierte als Ergebnis solchen von drei Generationen betriebenen Wirtschaftens ein auf mehrere Standorte verteilter Fabrikationsbetrieb für Haustechnik, der sich im Land unter die grössten Zehn einreihte. Mit den Ölkrisen der folgenden Dekade brach die Bauwirtschaft ein. Die Auswirkungen waren für genau solche Betriebe brutal. Wer nicht die Fähigkeit und Kraft zur Neuorientierung hatte, ging unter. Unsere Firma jedoch hatte beides: eine Führung mit dem Mut zu radikalen Entscheidungen und das nötige Eigenkapital in einer Zeit, da weder Banken noch Private besonders risikofreudig waren. Die Krise wurde zum Ausgangspunkt einer ungeahnten Erfolgsgeschichte.

 

Und das kam so. Statt auf die serbelnde Baukonjunktur setzten die Inhaber jetzt ganz auf einen Geschäftszweig, den sie bis anhin nur nebenbei und halbherzig entwickelt hatten, nämlich Umwelttechnik. Sie verkauften einen Grossteil der Produktionsstätten, verwandelten die verbleibenden in Forschungslabors und Entwicklungsateliers und starteten unter dem Namen Virotec als Pioniere einer neuen Branche. Es bereitete keine Mühe, die besten Fachleute für den, wie es hiess, Aufbruch in ein neues Industriezeitalter zu gewinnen.

 

Auf diese Weise verschmolzen die alten Tugenden des Unternehmergeistes, der Beharrlichkeit und der Solidität mit der Begeisterung für das damals frische Credo der Innovation. Virotec formierte sich als kleine, feine Denkfabrik für Umwelt-Engineering mit dem Spezialgebiet der «intelligenten Haustechnik» und errang dank dem klug genutzten Startvorteil des frühen Einstiegs ziemlich bald eine nationale Spitzenposition. Die Lizenzen ihrer zahlreichen Patente vergab sie an Produktionsfirmen, an denen sie sich wiederum in wachsendem Mass beteiligte.

 

Mit der Zeit entstand ein weit gespanntes Imperium, das den gewerblichen Charakter des einstigen Familienunternehmens hinter sich liess und das Interesse von Wirtschafts- und Finanzauguren auf sich zog. Wie wichtig die scheinbar kleine Virotec als Player in der Baunebenbranche geworden war, zeigte sich spätestens 1983 bei ihrem erfolgreichen Going public. Die Aktie stieg an der Börse rasant, und es wurde ihr stets noch mehr Potenzial attestiert, sodass der Unternehmenspolitik des «unsichtbaren Wachstums» durch Zukäufe und Beteiligungen vorerst kaum Grenzen gesetzt waren.

 

Wert und Erträge nicht nur der Virotec, sondern auch ihrer Beteiligungen und Tochterfirmen stiegen über Erwarten. Die Firma schwamm im Geld und genoss ein makelloses Renommee, das Kunden, Geldgeber und die talentiertesten Hochschulabsolventen magnetisch fast von selbst anzog. Virotec verquickte geschickt die Aura ihrer alten Firmentradition mit der Attraktion von Zukunftstechnologie. Den exquisiten Status eines Geheimtipps für Kenner setzte die Firma anfangs eher intuitiv, dann mit der Zeit aber durchaus raffiniert ein zur weiteren Steigerung des Unternehmenswerts.

 

Als ein Grossfinancier sich in den Besitz der Aktienmehrheit gebracht hatte, bestätigte dies nur den Ruf der Virotec, ein begehrtes Juwel zu sein. In der Tat rückte sie jetzt in den Rang einer Kleinen unter den Grossen auf. Der Verwaltungsrat wurde internationalisiert, es kamen ganz neue Verbindungen ins Spiel. Offenbar fand der Grossaktionär Gefallen an seiner Neuerwerbung; jedenfalls entsandte er den Top-Manager seiner Finanzholding als persönlichen Vertrauensmann ins Verwaltungsratspräsidium der Virotec. Von da an ging es Schlag auf Schlag. Den Aktionären wurde eine offensive Vorwärtsstrategie angekündigt. Neuartige Produkte seien in der Pipeline, hiess es, und weitere Firmenzukäufe standen angeblich bevor. Eine markante Vergrösserung des Teams unterstrich die Ernsthaftigkeit solcher Pläne.

 

Damit nicht genug: Aus Schweden wurde ein Manager, der angeblich in der Umweltindustrie legendäre Erfolge verbucht hatte, als CEO in die Virotec geholt. Der Schwede hatte offenbar Grosses vor. Er jettete kreuz und quer durch Europa und zeigte sich nur sporadisch in der Fabrikantenvilla. Das eigens für ihn umgebaute Büro, den fürstlichen Geschäftswagen und die auf Firmenkosten an prominenter Lage für zwölftausend Franken im Monat gemietete Wohnung benutzte er selten. War er da, so inszenierte er Auftritte, bei denen er den Eindruck erweckte, die Virotec stehe vor einem grossen Durchbruch und werde demnächst in der europäischen Spitzenliga mitspielen.

 

Nachdem es einiges Aufsehen in der Wirtschafts- und Fachpresse gegeben hatte, meldeten sich aber bald skeptische Stimmen. Berichte aus Schweden zeigten das Bild eines auf vielen Hochzeiten tanzenden Tausendsassa. Der Spuk dauerte nicht lange. Gerüchteweise hiess es, der Financier habe plötzlich andere Prioritäten, er ziehe sich und seinen Gewährsmann aus dem Virotec-Engagement zurück. Was das bedeutete, machte der schwedische Chef in einer überfallartigen Mitarbeiterorientierung klar: Die Virotec werde fusioniert mit der KDK. Den konsternierten Mitarbeitenden versprach er feierlich: «Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ihre Arbeitsplätze sind sicher.»

 

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Die Fusionierungsankündigung katapultiert die Virotec in eine andere Wirklichkeit, als hätte jemand einen Hebel umgelegt, der die Aufhebung der Schwerkraft bewirkt. Augenblicklich ist nichts mehr unmöglich: keine Frist zu kurz, kein Aufwand zu gross, kein Verhandlungsziel unerreichbar. Dabei erscheint das Vorhaben reichlich weit her geholt. Was soll der Zusammenschluss mit einem zwar grossen, aber technologisch zweitrangigen Konkurrenten? Der schwedische CEO begnügt sich mit Standardphrasen und gibt sich keine Mühe, die Fusion plausibel erscheinen zu lassen. Nach dem Auftritt vor den Mitarbeitern taucht er ab, man wird ihn hinfort nicht mehr sehen.

 

Noch am gleichen Tag wird eine Task-force der beiden Fusionsanwärter gebildet, bestehend aus Verwaltungsrats- und Kadermitgliedern beider Unternehmen. Beide Seiten ziehen als Berater bei: je eine Investmentbank, je ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen, je eine Anwaltskanzlei und je eine Kommunikationsagentur – insgesamt eine Truppe von 72 hochspezialisierten Fachleuten. Diese arbeiten ein Vierteljahr lang teilweise rund um die Uhr und unter strenger Geheimhaltung aller Details. Derweil werden Aktionariat und Öffentlichkeit auf den Deal vorbereitet.

 

Den Kaderleuten der Virotec ist rasch klar, dass die sogenannte Fusion in Wirklichkeit ein Verkauf ihrer Firma ist. Einige Gründe kann man sich zusammenreimen: Virotec ist wegen ihrer Patente enorm wertvoll und an der Börse immer noch unterbewertet. Die technologisch hinterher hinkende, aber grössere KDK will sich die Virotec schnappen und so auf internationalem Parkett qualitativ und quantitativ Terrain gutmachen. Das Interesse der Gegenseite ist klar, aber was ist das Motiv des Hauptaktionärs von Virotec, diese anfänglich so pfleglich behandelte Beteiligung nun plötzlich abzustossen?

 

Die plausibelste Erklärung ist das hohe Alter des Financiers, das ihn zwingt, seine Kreise enger zu ziehen und die Geschäfte neu zu strukturieren. Dazu benötigt er den vollen Einsatz seines Vertrauensmanns, den er daher aus dem Virotec-Verwaltungsrat zurückzieht. Ohne seinen eigenen Kapitän an Bord des Schiffes, das ihm mehrheitlich gehört und in so fremden Gewässern wie Hightech und Umweltproblemen navigiert, traut der Financier der Sache nicht. Oder fürchtet er nach dem schwedischen Abenteuer einen Knick in der Erfolgsgeschichte? Klar ist nur: Er hat es eilig, die Virotec abzustossen.

 

Die Task-force durchleuchtet beide Unternehmen in der sogenannten Due diligence bis ins letzte, handelt den Umtauschsatz der Aktien aus, bereitet den Fusionsvertrag vor, verabschiedet Presseerklärungen und Argumentarien in Deutsch und Englisch, steuert die Kommunikation mit Aktionären, Mitarbeitenden und Medien. Dies alles verläuft nach ehernen formalen Regeln, wird dutzendfach durchgecheckt und im Detail bis hinauf in die Verwaltungsräte abgesegnet. Die Beraterfirmen sind richtig teuer. Einzelne Experten lassen sich ihre vierundzwanzigstündige Einsatzbereitschaft zusätzlich vergolden. Doch das spielt keine Rolle angesichts der Milliarden, die verschoben werden sollen.

 

Erst einmal gilt es, den Eigentümern der Virotec den Aktientausch schmackhaft zu machen. Da Aktionäre nicht zwingend dumm und uninformiert sind, ist das keine ganz einfache Operation. So errichtet denn die Task-force imposante Konstrukte aus Kennzahlen, Statistiken, Analysen und Prognosen, um die Vorteile des Deals ins rechte Licht zu stellen. Es werde dank der Fusion die kritische Grösse für ein Mitspielen auf dem europäischen Markt erreicht, es ergänzten sich die Stärken beider Kandidaten in idealer Weise, es könne mit Kostenvorteilen und dadurch Rentabilitätssteigerungen gerechnet werden. So ziemlich alles, was nach der Erfahrung mit Hunderten von Fusionen meistens in die Binsen geht, wird auch bei diesem Zusammenschluss (?) wieder unter Aufbietung des blumigsten Managementjargons als solid fundiertes Erfolgsversprechen verkauft. Doch man ist gewitzt und verlässt sich nicht auf die aufwändig gestalteten Dokumentationen. Die Verwaltungsratsmitglieder der Virotec werden auf Ochsentour geschickt. Sie knöpfen sich alle wichtigen Aktionäre einzeln vor und werben persönlich um Zustimmung.

 

Die Generalversammlungen beider Unternehmen werden auf den gleichen Tag angesetzt. Für die Virotec bedeutet dies eine Vorverlegung um einige Wochen, was intern gewaltigen zusätzlichen Arbeitsdruck erzeugt. Beide Grossanlässe sind minutiös aufeinander abgestimmt. Das Ja der KDK-Aktionäre gilt als sicher; sie können eigentlich nur gewinnen. Ganz anders die Eigentümer der Virotec. Im Aktionariat ist Unruhe und Widerstand zu spüren. Niemand weiss genau, wie die Versammlung verlaufen wird. Die meisten Insider glauben nicht, dass die Fusion zustande kommt. Machtspiele und Beeinflussungsversuche verlaufen unübersichtlich, die Wirkungen bleiben unberechenbar. Ausserdem stehen unterschiedliche Auffassungen über das erforderliche Quorum bis zuletzt ungeklärt im Raum. Der Verwaltungsrat spielt auf Risiko und hofft, das höhere Quorum zu erreichen. Gelingt dies nicht, riskiert er eine gerichtliche Anfechtung des Resultats. – Dann der Tag der Wahrheit: Die Fusion, die eigentlich ein Verkauf ist, steht.

 

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Die eigentliche Wahrheit jedoch kam nachher zutage. Als erstes folgte die Totengräberarbeit: Website abschalten, Firmentafeln entfernen, Geschäftspapier entsorgen. Dann fanden einige Meetings statt zwischen den Kadern beider Seiten, bei denen, so machte es den Eindruck, die KDK-Exponenten bei den Ex-Virotec-Leuten möglichst viel Wissen abholten. Dass tatsächlich genau dies stattgefunden hatte, wurde wenige Wochen später klar: Die Mitarbeitenden der geschluckten Virotec wurden – bis auf fünf – alle entlassen. Mit diesem Handstreich setzte die KDK-Führung kaltschnäuzig ihren Machtanspruch durch.

 

Identität und Geist der Virotec sollten getilgt werden, selbst wenn damit ohne Not die im Vorfeld der Fusion versprochenen Vorteile grossenteils in Luft aufgelöst wurden. Das Aussprechen der Kündigungen hatten übrigens die Vorgesetzten der Virotec zu besorgen, bevor auch sie selbst in die Wüste geschickt wurden. Es gab keinerlei Abfindungen, bei den Task-force -Angehörigen des Kaders keine Entschädigung für die enorme Mehrbelastung während der Fusionsvorbereitung, keine Spur von Sozialplan, Outplacement oder sonstiger Unterstützung. Und es wurden die kürzest möglichen gesetzlichen Fristen angesetzt.

 

Von den Gefeuerten wurden einzig ein paar Kaderleute symbolisch belohnt: Wer in der Task-force die eigene Entlassung hatte vorbereiten müssen, durfte an der von den beteiligten Investmentbanken veranstalteten Siegesfeier teilnehmen, einem rauschenden Wochenende im Fünfsterne-Hotel eines weltbekannten Kurorts. Höhepunkt war der Besuch eines Poloturniers in den sonst von Royals belegten Logen. An diesem Wochenende erhielten alle Task-force-Mitglieder als Erinnerungsstück einen Plexiglaswürfel, auf dem an gegenüberliegenden Seiten die Namen der fusionierten Firmen eingeprägt sind. Man pflegt derlei Geschäfte so zu beenden. Die Merger-Profis benützen für solche Insignien das Wort «Grabstein». Sie sammeln diese Trophäen und stellen sie in ihren Büros aus. Wer am meisten Grabsteine hat, ist der Grösste. Die so reden, sind intelligente, sogar brillante Leute. Sie nehmen das mit den Grabsteinen selbstverständlich nicht ganz ernst. Die für den Job erforderliche Coolness schliesst auch eine Dosis Selbstironie mit ein, aber gleichzeitig ist klar, dass nur hundertprozentige Erfolge zählen. Das geht nicht ohne Härte, ohne Begrabene. Etwas Zynismus gehört zum Business.

 

Diese Doku-Fiktion ist die leicht verfremdete Darstellung einer Fusion, die sich vor wenigen Jahren in der Schweiz so abgespielt hat. Der Fall ist durch Verlagerung in eine andere Branche unkenntlich gemacht. Sollte jemand sich in der Darstellung wiedererkennen, so kann dies allenfalls auch daran liegen, dass der geschilderte Einzelfall nicht untypisch ist. – Der hier undverändert wiedergegebene Text erschien erstmals in Reformatio 4/2007 als Beitrag zum Schwerpunktthema „Abzocken“.

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