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Die Verzauberung der Welt

Unter der Überschrift „Die Verzauberung der Welt“ hat Jörg Lauster, so der Untertitel, „Eine Kulturgeschichte des Christentums“ vorgelegt. Das ist nicht nur vom Umfang des Vorhabens her kühn. Es ist auch ein für eine solche Gesamtdarstellung in der Theologie neuartiger Zugang. Lauster hat damit den cultural turn der Geisteswissenschaften für sein Fach fruchtbar gemacht. Der Ertrag dieser Annäherung ans Thema ist beeindruckend. Lauster ist ein grosser Wurf gelungen.

 

Was für einen systematischen Theologen nicht selbstverständlich ist: Lauster entscheidet sich für eine religionsphänomenologische Betrachtung des Christentums – oder der vielen Christentümer. Das schliesst den Einbezug der geistigen Selbstverständigung, wie sie in den Dogmen und Theologien geschieht, ausdrücklich ein, allerdings als lediglich eine unter zahlreichen Ausdrucksformen.

 

Die eigene intellektuelle Position, die in der Tradition der liberalen Theologie liegt (Lausters Hausgötter Harnack, Troeltsch und Tillich kommen ausgiebig vor), deklariert der Autor ohne Wenn und Aber. Er traut dem Erbe des Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts eine gehörige Kompetenz auch für die christliche Zeitgenossenschaft im (westeuropäischen) Kontext von heute zu.

 

In der Durchführung überzeugt Lausters grosse Kulturgeschichte mit umsichtiger Auswahl und Gewichtung, mit breitem – und in exemplarischen Einzelbetrachtungen immer wieder auch tiefgründigem – Verstehen der religiös-kulturellen Phänomene und nicht zuletzt auch mit einer engagierten Fairness. Lausters Liberalität bewährt sich im zurückhaltenden Beurteilen christlicher Strömungen, die weitab seiner eigenen Positionen liegen; sie verleitet ihn aber nicht in die Untiefen einer indifferenten Toleranz.

 

Alle Rezensenten scheinen sich einig zu sein, dass hier eine brillant geschriebene und höchst lesenswerte Gesamtdarstellung realisiert wurde. Das Buch liest sich in der Tat – der Kritiker-Gemeinplatz trifft hier in verblüffender Art zu – wie ein Roman. An dem Werk ist kaum etwas zu bemängeln – ausser allenfalls dem Titelwort „Verzauberung“.

 

Es fragt sich nämlich, ob der Begriff wirklich das richtige Codewort sei für den Zugang zu einem historischen Verständnis der christlichen Kultur. Es spielt an auf Jürgen Osterhammels „Verwandlung“ (dessen viel beachtetes Buch heisst: Die Verwandlung der Welt – Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts) und auf Max Webers „Entzauberung“ (dies Webers Umschreibung für die nicht zuletzt protestantisch gesteuerte generelle Rationalisierung, an der auch das Religiöse teilhat).

Gegenüber der handgreiflichen „Verwandlung“ als Signum des 19. Jahrhunderts ist die angebliche „Verzauberung“ der Welt durch die christliche Religion eine geradezu filigrane Metapher. Ihre Semantik reicht vom Mirakulösen bis zum Mystischen, Esoterischen und Poetischen. Sie deckt damit die Facetten des Christlichen aber höchst unvollständig ab. Lauster selber will nicht zu sehr auf diese Chiffre setzen; indem er das Christentum in seinem Buch als „denkende Religion“ charakterisiert, stellt er ein anderes Verständnis in den Vordergrund.

 

Webers Diktum von der „Entzauberung“ wiederum hat gegenüber der „Verzauberung“ den Vorzug der Entschiedenheit: Da braucht es keine Erörterung, worin der Zauber bestand; der Akzent liegt auf dem Vorgang des Auflösens. „Verzauberung“ hingegen ist als Code für das riesige und entsprechend riskante Unternehmen einer Kulturgeschichte der christlichen Religion gefährlich ungenau. Das hätte schiefgehen können.

 

Dass es nicht schiefging, liegt an den im Unterschied zum Titel sehr klaren Prämissen des Werks. Sie waren zweifellos für die Arbeit wichtiger als die Headline. Der kulturgeschichtliche Blick auf das Christentum ist nicht nur hinsichtlich des Verständnisses der religiös-kulturellen Phänomene und ihrer Zusammenhänge fruchtbar. Er bedeutet auch die Einübung einer Haltung, die das Religiöse in seinen vielfältigen kulturellen Manifestationen gesamthaft in den Blick bekommt und einen für ganz unterschiedliche Positionen offenen Verständnisrahmen setzt. Lauster hat das intellektuelle Potential dieses Ansatzes überzeugend vorgeführt und zum Nutzen der Leser ausgeschöpft. Seine Kulturgeschichte des Christentums ist ein ungemein kluges, spannendes und lehrreiches Buch, das allen Interessierten – ob theologisch vorbelastet oder nicht – uneingeschränkt empfohlen sei.

 

Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, Verlag C. H. Beck, München 2016 (4. Aufl.), 734 S.

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