· 

Kant versus Hume mit Habermas

 

Mit den Aufklärern Hume und Kant steht die Philosophie an einer folgenreichen Wegscheide. Sowohl der ernüchternde Empirismus wie die transzendentale Rekonstruktion von Vernunft, Autonomie und Moral prägen Wissenschaft und Geistesgeschichte bis heute.

 

Im 18. Jahrhundert legt die Aufklärung neues Selbstbewusstsein an den Tag. Sie erreicht mit Hume und Kant einen ersten, danach mit Hegel und Marx im 19. Jahrhundert einen zweiten Höhepunkt. Anders als Hume hält Kant am Erbe der christlichen Philosophie fest. Mit einer genialen Wendung der Subjektperspektive gelangt er zu seiner Transzendentalphilosophie. Sein Begriff der Autonomie führt zum auf sich selbst gestellten Subjekt. Trotz der Beunruhigung über die janusköpfige Emanzipation zielt das Projekt der Aufklärung bei Kant auf eine umfassende Verbesserung der Welt.

 

Demgegenüber negiert Hume alle religiösen Elemente und dekomponiert die Illusion des sozialen, vernünftigen Subjekts. Sein Ziel ist die Etablierung der Philosophie als empirische Wissenschaft. Die als illusionär entlarvten und zugleich als notwendig gerechtfertigten ursprünglich religiösen Konstitutionen setzt er pragmatisch ein: die Willensfreiheit als unvermeidliche Selbsttäuschung, das Selbst als stabilisierende Fiktion, die moralische Pflicht als funktionales soziales Konstrukt. Der Idee des historischen Fortschritts erteilt Hume eine Absage, obschon auch er sich publizistisch für die Aufklärung einsetzt.

 

Habermas stellt die Philosophien Humes und Kants einander gegenüber als fundamental divergierende Antworten auf die durch die Auflösung der Metaphysik hervorgerufene Krisis (diese im originalen Sinn als Entscheidung verstanden). Eine nachmetaphysische praktische Philosophie kann die religiösen Komponenten von Pflicht und Sollgeltung entweder – wie Hume – dekonstruieren und auf deren schlüssige Grundlegung pragmatisch verzichten. Oder sie kann diese Grundlagen in der Vernunft selbst – wie Kant das versucht – rekonstruieren und so die theoretische und praktische Philosophie als Einheit bewahren. Habermas arbeitet in seinem Projekt der Genealogie von Glauben und Wissen diese Weggabelung als entscheidenden Moment der abendländischen Geistesgeschichte heraus. Beide Denkwege lassen sich bis in die Gegenwart weiterverfolgen.

 

David Hume (1711–1776) – er gehört in die lange Reihe hervorragender schottischer Philosophen – schliesst mit 25 Jahren seinen dreibändigen «Traktat über die menschliche Natur» ab, ein ebenso originelles und revolutionäres wie vollständig ausgereiftes philosophisches System. Hume folgt in vielem den schottischen Moralisten, die Hobbes’ Rationalismus ablehnten und die wahren moralischen Beweggründe in den Gefühlen suchten. Neu bei ihm ist, dass er die Gefühle als Bestandteile der Natur objektiviert und deren Erkenntnis einer rigorosen Analyse unterzieht, wie es sie in dieser Radikalität zuvor nicht gab.

 

Hume konzipiert seine neue Philosophie als erfahrungsbasierte Wissenschaft, die mit einem «Blick von nirgendwo» auf die Natur und die menschliche Innenwelt schaut. Bei der äusseren Beobachtung wie bei der psychologischen Introspektion ist er sich im Klaren, dass sie nur je eigene Eindrücke erfassen, deren Ursachen im Dunkeln liegen. Diese radikale Erkenntnisskepsis erschüttert allerdings nicht das Vertrauen in den gesunden Menschenverstand; sie nötigt nur zur Klärung der Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit: «Die Skepsis über den kognitiven Zugriff auf das Ansichsein der Natur verbietet uns nicht, dass wir im Alltag von der konkreten Existenz der Natur ausgehen.»

 

Mit seiner raffinierten Umgehung des Erkenntnisproblems vermeidet Hume den Dualismus von Geist und Natur. Er eliminiert aus der Natur- und Selbstbeobachtung den Selbstbezug des Beobachters. Dem in der Aufklärung aufgekommenen Begriff der Vernunftreligion, der teleologische und moralische Vorstellungen ins nachmetaphysische Denken hinüberretten soll, erteilt er eine schroffe Absage. Diese Form von Religion habe zwar einen pädagogischen Sinn, aber sie missverstehe sich selbst als vernünftig. «Natürliche Religion» mache die falsche Voraussetzung einer Teleologie der Natur, auf der die unhaltbare Schöpfungshypothese beruhe. 

 

Der Schöpfungsgedanke ist nach Hume allein schon deshalb nicht vernünftig zu begründen, weil er auf den Kausalitätsbegriff angewiesen ist. Letzteren unterzieht er einer scharfsinnigen Kritik, deren analytische Struktur den Kern der Hume’schen Philosophie ausmacht: Die Relation von Ursachen und Wirkungen ist nur scheinbar notwendig, sie lässt sich logisch nicht fassen. Was als Kausalität wahrgenommen wird, ist lediglich wiederholte Beobachtung; letztere fügt den Phänomenen ein Element der Notwendigkeit hinzu, das nicht durch Erfahrung gedeckt ist. «Die Vorstellung eines Agens, das ein Band der Nötigung zwischen Ursache und Wirkung stiftet, wird nicht durch die Sinne vermittelt. Die Vorstellung kausaler Notwendigkeit ist zwar unvermeidlich, aber gleichwohl eine Illusion.» Sie ist eine Selbstwahrnehmung des Geistes, nicht eine Wahrnehmung in der Natur. 

 

Dennoch geht Hume von der Gültigkeit der Newton’schen Gesetze aus. Der projektive Charakter der Kausalität ist im Sinne eines für die Naturwissenschaften funktional notwendigen Scheins zu verstehen – eine philosophische Hypothese, die angesichts der Unanschaulichkeit der aktuellen Astro- und Teilchenphysik gewiss an Plausibilität gewonnen hat. 

 

Habermas erinnert daran, dass die Grundbegriffe etwa von Moralphilosophie und Vernunftrecht – Person, Individuum, Wille, Freiheit, Geltung von Normen – sich aus philosophischer Aneignung religiöser Vorstellungen herleiten. Hume dekonstruiert alle diese Begriffe und qualifiziert sie als illusionär. An die Stelle einer normengeleiteten Moral stellt er «die wahre Naturgeschichte» von Moral und Recht. Hume beginnt mit der Auflösung des Identitätsbegriffs, den er als Selbsttäuschung erachtet. Die Reflexion einer inneren Wahrnehmung bezieht sich stets auf bestimmte Gegenstände, nicht auf das Selbst. Die Vorstellung von Identität ist in Wirklichkeit eine von zueinander in Beziehung stehenden Gegenständen. Sie bringt die Illusion eines gleichbleibenden Substrats im Bewusstseinsstrom hervor.

 

Hume wählt auch hier die Position einer «View from nowhere», um die Introspektion von jeder vorgegebenen begrifflichen Struktur zu reinigen und so auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Menschliche Handlungen sind Naturereignisse – und wie diese prinzipiell voraussagbar. In der von Hume zur Schlüsselwissenschaft gemachten Psychologie sind sich Naturerkenntnis und Selbsterforschung des Menschen ähnlich, wobei die materielle Natur einen ontologischen Vorrang geniesst. Die Illusion der Willensfreiheit ergibt sich aus dem Widerstreben, den menschlichen Geist als Naturgegebenheit zu betrachten.

 

In seiner Analyse der Moral verwirft Hume jede bindende Kraft von Normen. Er entkoppelt das Handeln von der Vernunft und sieht es ausschliesslich durch Affekte bewegt. Die Vernunft verhält sich passiv zur Welt und kann keine Handlungen auslösen. Moralische Aussagen sind lediglich evaluativ, sie orientieren sich an von Affekten gebildeten Werturteilen. Jedes Sollen gründet einzig auf strafbewehrten Befehlen und Normen, die willkürlich gesetzt, nicht von höheren Begriffen oder Ideen abgeleitet sind.

 

Trotz dieser zersetzenden Analyse hat sich für Hume die praktische Philosophie nicht erledigt. Das «falsche» Bewusstsein bleibt funktional erforderlich. Konsequent konzipiert Hume auch die Moralphilosophie als Erfahrungswissenschaft. Diese erklärt moralische Billigung oder Missbilligung mit Lust- und Unlustgefühlen. Doch mit diesem auf das Individuum zielenden psychologischen Besteck ist es schwierig, das Phänomen gesellschaftlicher Wertvorstellungen anzugehen. Hume behilft sich mit dem Konstrukt des moral sense, den er als Geschmacksurteil versteht, das sich aus einem Abgleich mit Urteilen anderer bildet. 

 

Der im moral sense auftretende Gegensatz von Tugend und Laster verrät eine (in Humes System eigentlich nicht vorgesehene) Normativität und soziale Verbindlichkeit. Auch der unter egoistischen Materialisten, als die er die Menschen versteht, kaum zu erwartende Wert des selbstlosen Mitgefühls kommt in diesem Tugendkatalog vor; Hume will hiefür eine natürliche Anlage erkannt haben. Gegenüber diesen auf Affekten beruhenden «natürlichen» Tugenden hat die Gerechtigkeit den Status einer «künstlichen Tugend». Mit dieser Konzeption handelt Hume sich nun aber unlösbare Schwierigkeiten ein. Da Gerechtigkeit für ihn auf Affekten beruht, erlaubt sie keinen unparteiischen Gesichtspunkt – was aber für gerechtes Urteilen eigentlich nötig wäre. Hume postuliert ersatzweise einen von Gefühlen unabhängigen moral point of view. Kant wird diesen der berichtigenden Kraft der praktischen Vernunft anvertrauen.

 

Immanuel Kant (1724–1804), kein Schnellstarter wie Hume – die bahnbrechende «Kritik der reinen Vernunft» veröffentlicht er mit 57 Jahren – entwickelt seine Philosophie in Auseinandersetzung mit derjenigen seines grossen Gegenspielers. Hume, so kritisiert er, verkenne das philosophisch Erklärungsbedürftige als solches; er vergegenständliche dieses in einer Weise, die es zum Verschwinden bringe. Mehr noch: Kant hält Humes empirischen Ansatz für eine unzulässige Selbstbeschränkung des philosophischen Denkens. Eine Philosophie, die sich dem Modus des Erfahrungswissens anpasst, gibt den Versuch auf, Menschheitsfragen zu beantworten. 

 

Habermas hierzu: «Anders als Humes Vernunftskepsis lebt Kants Denken aus dem Impuls, mit dem ‘Vernunftglauben’ einem in der Vernunft selbst brütenden Defätismus zu begegnen. Auf ihrem Wege von Athen über Rom, Paris, Salamanca und Oxford bis Königsberg hatte die Philosophie diese Aufklärungsarbeit auch anderthalb Jahrtausende lang in einer Arbeitsteilung mit der Theologie geleistet. Anders als Hume will Kant jene aus dem theologischen Erbe der praktischen Philosophie stammenden Grundfragen so rekonstruieren, dass sie noch unter den Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens mit guten Gründen beantwortet werden können.»

 

Allerdings konnte das entsprechende Wissen nur so lange in einer gemeinsamen Theoriesprache artikuliert werden, als die theologisch-philosophischen Begriffe noch durch eine verbindende Metaphysik miteinander verschränkt waren. Nach ihren subjektphilosophischen Zuspitzungen der Erkenntnistheorie müssen Hume und Kant auf solche metaphysischen Grundbegriffe verzichten. Es fehlt fortan die Klammer, die einst einen «logisch unauffälligen» Übergang von evaluativen zu normativen Äusserungen möglich gemacht hat.

 

Kant spricht erkenntnistheoretisch von der «gesetzgebenden Vernunft»; dies deshalb, weil sie Anspruch erhebt auf Erkenntnisse a priori (der Erfahrung vorausliegend). Die kognitiven Leistungen des endlichen Vernunftwesens Mensch erstrecken sich auch auf die praktische Vernunft und die Urteilskraft – und damit auf diskursfähige Aussagen. Aufgrund der Entdeckung der synthetischen Urteilen a priori (nicht aus Erfahrung gewonnene Urteile, die nicht notwendig verbundene Begriffe miteinander verbinden – Beispiel: Menschen haben Rechte) schreibt Kant dem erkennenden Subjekt die Fähigkeit zu, nicht nur empirisches Wissen über die Natur zu erlangen, sondern durch transzendentale (die Bedingungen von Erkenntnis betreffende) Reflexion auch die Vernunftoperationen selbst zu verstehen. Die kritische Selbstvergewisserung der Vernunft transzendiert das anschauungsgebundene Denken. Aus der transzendentalen Analyse ergibt sich eine strenge Abgrenzung gegen den grenzüberschreitenden Verstandesgebrauch der Metaphysik. 

 

Darin ist sich Kant mit Hume einig, auch in der beharrlichen Religionskritik. Im Gegensatz zu Hume geht Kant aber davon aus, dass die praktische Vernunft in der Religion einen moralischen Gehalt wiedererkennen kann, der vernünftig rekonstruierbar ist. Mit den als «Postulate» gekennzeichneten Begriffen von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit versucht Kant, einen «Vernunftglauben» zu begründen. Es handelt sich um Kants Versuch, mit Hypothesen die Spannung zwischen überschiessendem moralisch-praktischem Anspruch und den Grenzen von Verstand und eigener Natur zu bewältigen.

 

In Humes Empirismus ist das Subjekt konstruiert aus einer Abfolge von Eindrücken. Für Kant hingegen ist das transzendentale Ich Ursprung einer spontanen Synthesis, welche die subjektive Einheit in der Mannigfaltigkeit der Gedanken erst herstellt. Die Vorstellung, «dass ich bin, ist ein Denken, nicht ein Anschauen». Das transzendentale Ich entzieht sich der Beobachtung. Es kann nur rekonstruiert werden durch die kritische, ihre eigenen Operationen prüfende Vernunft. Diese Konzeption von Subjektphilosophie schlägt die Brücke zwischen theoretischer und praktischer Vernunft

 

Kants Kritik der reinen Vernunft ist «die kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie». Sie stellt der passiven Natur «das Bild einer leistenden Subjektivität gegenüber, die das Ganze möglicher Erscheinungen unter Naturgesetzen vor aller Erfahrung konstituiert.» Das Subjekt muss die Natur stellen, um auf Fragen Antworten zu erhalten. In der Auseinandersetzung mit dem Empirismus zielt Kant auf die «Wiederherstellung der Philosophie», indem die Welt wieder in den Blick kommt.

 

Besonders herausfordert ist Kant von Humes Verzicht auf die rationale Begründung von bindenden Normen des Rechts und der Moral. Dabei identifiziert Kant den Begriff der Freiheit als Stein des Anstosses für Empiristen. Habermas ist der Überzeugung, Kant habe die Analyse der theoretischen Vernunft vorgenommen mit dem Ziel, die praktische Vernunft als Thema der Philosophie zu rechtfertigen. Zu diesem Zweck führe Kant einen wesentlich praktischen Subjektbegriff ein, in dem zwischen der empirischen Person und dem transzendentalen Ich eine starke Spannung bestehe. So wie die Möglichkeit von Erkenntnis der theoretischen Klärung ruft, führt das Wissen um Freiheit dazu, dass praktische Vernunft ein genuines Interesse am Wirken in der Welt einschliesst.

 

Freiheit ist gebunden an die Vernunft. Für Kant ist Autonomie – dies einer der Zentralbegriffe seiner Philosophie – nichts anderes als die Selbstgesetzgebung der Vernunft. Diese «vernünftige Freiheit» ist in der gesamten Habermas’schen Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen ein roter Faden, dem er von Anfang bis Schluss folgt – was zeigt, wie wichtig Kants Philosophie für ihn ist als Referenz des eigenen Denkens: «Die vernünftige Freiheit des menschlichen Willens besteht also nach dieser kühnen Lesart in der Bereitschaft, sich der ‘Natur’ des Moralgesetzes (der als Gnadenwirkung interpretierten Anlage zum Guten) eher zu unterwerfen als der Natur unserer Affekte und Triebe, um diese Anlage zur Wirkung kommen zu lassen.» Habermas sieht hierin eine «waghalsige ‘Übersetzung’ des göttlichen Gnadenakts in die Selbstermächtigung zur Autonomie»:

- Die aus Gnade bewirkte Vernunft führt zur Ermächtigung des Subjekts; 

- der göttliche Wille zieht sich in die Sollgeltung der Vernunftgesetze zurück; 

 das Subjekt bindet sich an die gegebenen Gesetze.

 

Habermas ist nun aber der Auffassung, Kant sei mit dem Versuch gescheitert, die mit der Verabschiedung der metaphysischen Dimension offengebliebene Motivationslücke der rein vom vernünftigen Subjekt gesetzten Moral zu füllen. Den «Fehler» sieht Habermas in der theoretischen Philosophie Kants: Das mit dem Vernunftvermögen spontaner Selbstgesetzgebung ausgestattete Subjekt vollzieht im Erkennen des Seienden die Erzeugung von Gegenständen der Erfahrung; die transzendentale Vernunft rekonstruiert sie a priori.Erkennbar sind demnach nur die Phänomene, nicht die «Dinge an sich»; letztere können aber gedacht werden. Der Kosmos als Ganzer ist kein Erfahrungsgegenstand, sondern eine regulative Idee, von der der Verstand keinen Begriff hat. Die vier kosmologischen Antinomien sind Vernunftschlüsse, die als Kategorien des Verstandes zu durchschauen sind. Wichtig ist für Kant die dritte Antinomie mit dem Gegensatz von Kausalität und Freiheit, da sie kein zwingendes Argument gegen die Freiheit hergibt. Kant will daraus das «Faktum der Freiheit» gewinnen und es zum Schlussstein seines Systems der reinen Vernunft machen.

 

Kants Moralphilosophie zehrt von den Vorleistungen seiner Erkenntniskritik. Für ihn ergeben sich die epochalen Begriffe des kategorischen Imperativs und der Autonomie aus der transzendenzphilosophischen Vorarbeit quasi von selbst. Da Moralgesetze allgemein sein müssen, ist praktisch gut nur, was jedes vernünftige Wesen wollen kann. Die Sollgeltung des Vernünftigen korreliert mit der Willensfreiheit, wobei nur der «gute» Wille frei sein kann. Der Begriff der Autonomie stützt diese Korrelation, indem er Freiheit und vernünftige Freiheit als gleichursprünglich annimmt. Wir handeln frei, wenn wir uns an Gesetze binden, die wir uns aus Einsicht selbst gegeben haben. 

 

Dabei muss Kant erklären können, wie sich der absolute Sollgeltungsanspruch praktischer Gesetze allein aus Vernunft erklärt. Die Verlegenheit eines zur Moralität verblassten Glaubens, der kaum in der Lage ist, starke moralische Bindekräfte hervorzubringen, legt eine grundlegende Schwierigkeit rein säkularen Denkens offen. Mit seinen Postulaten – Freiheit, Gott, Unsterblichkeit – führt Kant quasi durch die Hintertür den Gedanken der rettenden Gerechtigkeit wieder ein. Da den Postulaten nach der Verabschiedung der Metaphysik keine Wahrheitsansprüche mehr zukommen, eignet ihnen bloss ein Für-wahr-Halten in praktischer Absicht. Die Vernunftmoral, so das Fazit von Habermas, ist entgegen Kants Überzeugung eine zu schmale Basis, um den Orientierungsbedarf des Menschen, der sich kraft autonomen Gebrauchs seiner Vernunft emanzipieren will, zu befriedigen.

 

Bild links: David Hume, 1754. Stich aus «The History of Great Britain», Künstler unbekannt

Bild rechts: Immanuel Kant, ca. 1790. Maler unbekannt, möglicherweise Elisabeth v. Stägemann (Schule des Anton Graff)

 

Dies ist der sechste Beitrag der Reihe über meine Habermas-Lektüre (Auch eine Geschichte der Philosophie, 2019, 2 Bde.). Die Übersicht der Reihe:

1. Ostern mit Habermas, 12.4.2020

2. Antike mit Habermas, 31.7.2020

3. Thomas mit Habermas, 2.8.2020

4. Nominalismus mit Habermas, 4.8.2020

5. Von Luther bis Locke mit Habermas, 6.8.2020

6. Kant versus Hume mit Habermas, 8.8.2020

7. Von Hegel bis Marx mit Habermas, 9.8.2020

8. Peirce mit Habermas – und Schluss, 10.8.2020

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Karl Grob (kgrob@mus.ch) (Mittwoch, 09 September 2020 20:38)

    Teil 1
    Zuerst möchte ich Ihnen für diese sehr schöne Arbeit danken. Das Nachzeichnen der Habermas’schen Argumentation ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen, die Habermas aufwirft. Ich bin nicht Fachphilosoph, habe aber im College de Philosophie in Paris während über 4 Jahren an einer Auseinandersetzung mit Kants Philosophie teilgenommen, die ihresgleichen suchte. Es war meine erste Begegnung mit einer nahezu idealtypischen Seminarform, wie sie wohl Humboldt vorschwebte. Fachphilosophisch hat diese Diskussion in erster Linie in den Büchern von Luc Ferry und Alain Renault zu Kant ihren Niederschlag gefunden. Dazu auch in den neuen Übersetzungen von Kant in der Pleiade. Es ist mehr als schade, dass diese Arbeiten in der deutschen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen werden. Ausnahmsweise stammen sie nämlich von Philosophen, die - im Gegensatz zur französischen Tradition - Deutsch beherrschen. Nun zur Sache selbst.

  • #2

    Karl Grob (Mittwoch, 09 September 2020 20:38)

    Teil 2
    Das „Ungenügen“, das Habermas bei Kant zu finden meint, beruht auf einem Missverständnis, das sich wie kaum ein anderes in der deutschen Philosophiegeschichte eingegraben hat und Ihr Referat lässt dies sehr schön erkennen. Profan findet es sich z. B. im Werk „Von Kant zu Hegel“ von Kroner, das z. B. Adorno zur Lektüre empfiehlt (also keine Frage der ‚Linken‘ oder ‚Rechten‘). Oder historisch: Das Problem des „Ding an sich“ wird von Jacobi aufgespiesst und dessen Kritik bestimmt danach die grundlegenden Tonarten des Idealismus. Und so wird auch Fichte gelesen. Er wird mit seinem „absoluten Ich“ zum Vorläufer von Hegel und so weiter. Dass Fichte selbst immer wieder betont hat, er mache nichts anderes als Kants Philosophie neu zu fassen (eben ohne die Anleihe beim Ding an sich), blieb liegen. So wie latent die gesamte Kant’sche Dialektik eine Art überflüssiges Übel wurde. Nun hat aber Alexis Philonenko (ich weiss nicht, ob er der Erste ist) eine andere Lesart vorgeschlagen, bei der es - jedenfalls mir (ich habe u.a. über die Fichte-Studien von Novalis gearbeitet) wie Schuppen von den Augen fiel. Bei Kant kommt die Dialektik hinter der Analytik, d. h. er erläutert die Grenzen und vor allem die Fallstricke der menschlichen Vernunft nach dem Festzurren der „gesetzgebenden Vernunft“. Wenn nun Fichte vom untrennbaren Ich ausgeht und sieht, dass es notwendigerweise aufgeteilt werden muss, dann heisst das eben, dass er die Logik des Scheins - wie man heute sagt - dekonstruiert, oder banaler, dass er vom Irrtum (im Sinne der Kantschen Dialektik von einer Idee) ausgeht, um zur Wahrheit zu kommen. Soweit zur gewissermassen ‚Grundidee‘ einer anderen Kant-Lektüre. Die einfache Frage an Habermas müsste sein: Wozu die KdU? Welche Stellung hat das teleologische Urteil im Rahmen der Begriffsbildung auch der KdU. Wir begannen mit der Frage: Warum lassen sich die Gesetze der Natur mittels Mathematik und Geometrie formulieren (warum ‚stimmen‘ die Gesetze) und inwiefern sind Mathematik und Geometrie Erfahrungswissenschaften? (Die moderne Auffassung der Mathematiker geht von rein analytischen und damit formalen Urteilen aus - das kann bei genauer Betrachtung aber nicht erklären, warum wir beides lernen müssen - ein Grundproblem des Rationalismus.) Das funktioniert, weil die Mathematik die Regeln der Vernunft (Kategorien) auf den ‚inneren Sinn‘ - die Zeit und die Geometrie dasselbe auf den ‚äusseren Sinn‘ - den Raum anwendet. Mathematik und Geometrie sind Erfahrungswissenschaften ohne Empirie. Sie liefern die ‚Folie‘ aller Erfahrungswissenschaft, indem sie die ‚Ideen‘ produzieren. Man kann das an einem eifachen Beispiel erkennen: Der Punkt der Geometrie ist ein Ort ohne Ausdehnung. Sobald ich ihn auf ein Blatt zeichne, ist es - der Idee nach - kein Punkt mehr, oder anders gesagt: um einen Punkt zu ‚sehen‘ und das Objekt begrifflich zu fassen, muss ich mir (still) sagen: Das soll ein Punkt sein, was ein teleologisches Urteil ist: die Darstellung erfüllt den Zweck, einen Punkt darzustellen. Alle empirische Begriffsbildung beruht auf teleologischen Urteilen.
    (Das ist nicht immer trivial: Wenn ich z. B. eine Handschrift transkribiere, dann kommt es vor, dass ein ‚Punkt‘ ein Dreck oder eben ein Punkt sein kann. Je nachdem ob ich mich für die Teleologie oder gegen sie entscheide, kann der Satz eine andere Bedeutung erhalten.)

    Was ist der langen Rede kurzer Sinn? Teleologische Urteile beruhen gemäss KdU auf ‚subjektiver Notwendigkeit‘, also letztlich auf dem Gemeinsinn. Wenn dem aber so ist und wenn die ganze Welterfahrung letztlich auf der menschlichen Fähigkeit der Intelligenz beruht – wenn wir also die Welt zu ‚lesen‘ vermögen und uns über die Regeln des Lesens (die „Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis“) jeweils vorläufig (der Mensch ist endlich - eine konstitutive Voraussetzung der Erfahrung für Kant!) einigen können, dann bringt es nichts, diesen Prozess hinterrücks überholen zu wollen. Das ergibt im besten Fall(!?) eine Gelehrtenrepublik, meistens aber philosophisch und später auch politisch totalitäre Systeme.
    Es ist sehr verständlich, wenn uns diese Beschränkung frustriert. Aber meines Erachtens wäre es eine Grenzüberschreitung, diese Frustration zum Anlass zu nehmen, eine Art ‚allgemeine Zusatzreligion oder -tradition’ einzuführen. Kant ist jedenfalls dabei geblieben: Hoffen kann man immer, aber die Transzendentalphilosophie gibt dafür keine feste Grundlage.

    Was bleibt, ist: Wir haben das Vermögen – in endlicher Weise – die Welt zu erkennen, und wir haben die Fähigkeit, uns moralisch (im Sinne Kants) zu verhalten, aber es gibt keine Garantie (auch bei moralischem Verhalten!) dass ‚es gut wird‘.

  • #3

    K;arl Grob (Mittwoch, 09 September 2020 20:49)

    Korrektur:
    Welche Stellung hat das teleologische Urteil im Rahmen der Begriffsbildung auch der KdU. -> … der KrV